Occhi e bocca
Der Kinderzauberer
Magischer Klub Wien
Jeder, der willens war, das Reich der nächsten Dimension zu betreten, stieg empor in den Oberstock des kleinen Lädchens, wie weiland Vater Zeus zum Olymp. Hienieden, wo Nasen, Ohren, Juckpulver und alles, was den Menschen im Fasching Spaß macht, die Regale füllten, hörte man das unheilvolle Knarzen der Dielen, als stünde der Wolkenthron auf wackeligem Gebälk. Wahrscheinlich schlich gerade einer der beiden alten Zauberer von seinem wackeligen Sesselchen zur kleinen Bühne hinüber, dessen Podesterie die Zuschauerebene nur ein paar Zentimeter überragte, was aber genügte, die Welt der Magie weit über allem Irdischen schweben zu lassen. Die Schwerkraft wurde vor den Augen des Adepten wie von Geisterhand aufgehoben und jenem Universum anempfohlen, das das Herz des schüchternen Knaben mit Träumen erfüllte. Auf dieser winzigen Bühne verwandelte sich die Quadratur zum Kreis – und das Kind zum Jüngling.
Zauberklingl hieß das muffige Geschäft, das ab dem zwölften Lebensjahr zu meinem Fluchtpunkt wurde. Ein arglos gemeintes Geschenk eines meiner Onkeln eröffnete mir eine Achterbahnfahrt ins Reich des Transzendenten. Einmal pro Woche stieg ich die enge, gusseiserne Treppe hinauf und betrat ein Universum, in dem die Erdenschwere frühpubertärer Bubentage nichts galt, die Illusion aber vieles ermöglichte, zum Beispiel die Überwindung meiner Schüchternheit. Hier, in der Schwerelosigkeit der Fantasie, vertraute ich mich übernatürlichen Kräften an. Doch kein Preis ohne Fleiß. Ab diesem Zeitpunkt lief mein Ehrgeiz Amok, und das Leben steuerte in die einzige wahre Richtung. Einer der beiden alten Zauberer wurde mir zum Lehrmeister: Der gütige Herr Holl, außerhalb der Welt der Münzen, Karten und Ringe ein wohlverdienter Senatsrat, nahm mich unter seine Fittiche, und von diesem Moment an kompensierte sich mein mangelhafter Lernerfolg mit der Begeisterung für Überirdisches, das sich mir im Reich des kleinen Zauberladens in der Wiener Führichgasse, zum Leidwesen meiner Eltern, erschloss.
Magic Christian
Vergessen war der schulische Drill, mein Leben machte mit einem Mal Sinn. Vom Augenblick meines Eintritts in den Zirkel der Illusionen hatte alles andere Sendepause. Tagelang, monatelang, jahrelang stand ich vor dem Spiegel. So manche Kartenmanipulation und das „Durchdringen von Materie“ verdankte ich meiner Fingerfertigkeit, die nicht nur mich selbst zu verblüffen begann, sondern auch die zum Staunen bestens geeignete einzige Zuschauerin, meine Großmutter. Hühnereier verschwanden vor ihren Augen, rote Bälle liefen wie von einem unsichtbaren Faden gezogen über meinen Handrücken, Karten schrumpften, Stahlringe verschmolzen ineinander, Häschen vermehrten sich in der Hand der Zuseherin und unter dem Zahnputzbecher erschien auf magische Weise die soeben aus der Küche entschwundene Zwiebel. Meine Omama war stets von neuem begeistert, während die Eltern der Zukunft skeptisch entgegensahen. Je schlechter die Schulnoten, desto ratloser wurden auch die Klassenlehrer. Die Verwunderung über die Entwicklung des stillen Buben zum versierten Salonmagier machte auch vor allerhöchster Ebene nicht halt: Es gelang mir, den Direx höchstpersönlich zu verblüffen. Anlässlich einer meiner Zaubervorführungen im Festsaal der Schule wagte ich das vielbestaunte Husarenkunststück, indem ich unter dem Gejohle der Kommilitonen das direktoriale Sakko zerschnitt, um es kurz darauf unversehrt wieder zurückzugeben. Die Mutprobe sollte sich bezahlt machen, und zu meiner größten Verblüffung entschloss sich der weise Mann doch tatsächlich dazu, meine schulische Ahnungslosigkeit mit dem Talent des „unter der Bank“ Ausgebildeten aufzuwiegen und hokus pokus fidibus ward das Kaninchen vulgo Matura aus dem Hut geholt. Von diesem Moment an tourte ich als für „reif“ erklärter Zauberer von Betriebsfeier zu Faschingsfest, von Kinderjause zu Partysause. Meine Träume wuchsen in den Himmel: Las Vegas sollte es werden, das Walserfeld wurde es.
Das Haus der Illusionen
Inmitten einer traurigen Wohnsiedlung gleich neben der Salzburger Schwarzenbergkaserne lag die Dependance des Mozarteums, wo mir die Taschenspielertricks der Bühnenkunst beigebracht wurden. Drei Jahre später hielt ich mein Diplom in der Hand – ich war mitnichten professioneller Zauberkünstler geworden, dafür aber, nebbich, staatlich geprüfter Schauspieler. Fortan verwirrte ich meine Zuseher mit Worten, Gesten und Gefühlen. Meine Kindheit ließ ich hinter mir, die Zylinderhasen und Zauberapparate verstaubten im Keller. Ich wurde erwachsen – und ich denke, es ist dies das einzige Kunststück, das mir bislang gründlich misslang.
Eines meiner frühen Idole ist seinen Weg konsequenter gegangen. Der Hundling war wohl auch um ein Vielfaches begabter, denn er schaffte, was mir verwehrt blieb: den Sprung in die Glücksstadt am Rande der Mojave-Wüste. Der Mann wurde dreifacher Weltmeister der Manipulation und verzaubert sowohl mit dem Charme seines Vortrages als auch mit seiner stupenden Fingerfertigkeit bis heute Publikum wie Fachwelt. Zu einer Zeit, als ich auf der Probebühne des Schauspielseminars von Publikum träumte, füllte er die größten Varietés, und während ich ein paar Jahre später im Wiener Theater der Jugend in Nebenrollen nicht auffiel, stand er von Tokyo bis Los Angeles, von Kairo bis New York auf der Bühne. Magic Christian war der Star seiner Generation, und er ist es immer noch. Nach wie vor tourt er durch das edle Universum der Täuschung, hält Vorträge, unterrichtet und zaubert. Herr Stelzel hat geschafft, woran ich im Traum nicht mehr zu denken wage: Er wurde der größte Zauberer der Welt.
Die Mathematik der Karten
Jüngst begab sich Seltsames, besitzt doch mein lebenslanges Vorbild eine höchst eigene Leidenschaft: Er durchstreift Tandlmärkte – und das weltweit. Während ich aus Liebe zur Lust nach Krimskrams und Kokolores Ausschau halte, ist er auf professioneller Pirsch nach Dokumenten und Fotos seiner Vorgänger: Okito, Johann Nepomuk Hofzinser, Ottokar Fischer und wie sie alle hießen. Und, aufgepasst, sogar von meiner Wenigkeit. Erst vor kurzem nämlich hielt mir mein Freund (ich darf den großen „Magic“ so nennen) ein verblichenes Foto aus vergangenen Tagen unter die Nase: Ich als junger Kirtagszauberer einer Talente-Show aus den Schwarz-Weiß-Tagen des Fernsehens. Wie kam die Trouvaille in seine Finger? Wohl nicht das einzige Geheimnis im Laufe seiner Karriere. Wir kamen ins Gespräch, und eine Einladung zu einem Gästeabend des Magischen Klub War die Folge. Der Klub bewahrt nicht nur die lange „magische“ Tradition Wiens, er kümmert sich ebenso um Nachwuchs wie um Publikum: Einige Male im Jahr finden öffentliche Zaubervorstellungen statt. Wie gerne ließ ich mich dazu verführen! Ich, der ich ein Leben lang auf der Bühne verbracht habe, wurde erneut zum Kind. Wieder roch ich die Muffigkeit des längst zu einem Handy-Laden verkommenen Innenstadtgeschäftes, hörte die knarzenden Dielen des Oberstocks, sah nach langen Jahren wieder in die gütigen Augen des alten Zauberers und staunte über das Wunder der sich ineinanderfügenden Ringe, der schrumpfenden Spielkarten, des Tücherfärbens und des Chicagoer Billardballtricks.
Nun sind es andere, die die Welt der Unbegreiflichkeiten beherrschen und ihr Publikum verzaubern. Magic Christian scheint ewiges Leben gepachtet zu haben. Vielleicht hat er dieses Kunststück ja auch als Vermächtnis von seinem großen Vorbild, dem Wiener Magier Hofzinser, übernommen, denn die Grandezza seiner Persönlichkeit und die Weisheit lebenslanger Routine verzaubern immer noch. Im ältesten „Übernachtungsbetrieb“ Wiens, dem Hotel Stefanie, wo eiserne Vorhänge im Boden verschwinden und Tische, Stühle und Gläser zu schweben scheinen, wo Tafelfreude und Küchengeheimnis eine kulinärrische Allianz eingehen, ist das Staunen zu Hause.
Zauberliteratur
Flutet die Gästeabende der Zauberer, Freunde, und lasst euch verführen! An Wunder zu glauben, heißt das Leben genießen, denn nur die Kraft der Fantasie, nebst der Kunst der Medizinalbeauftragten, lässt uns überleben – beides schenkt uns das Geheimnis schwerelosen Lebens. „Der Glaube an die Möglichkeit des Unmöglichen macht das Unmögliche erst möglich.“ Magic Christian blickt mich an, ob ich den Satz wohl verstanden habe.
Nur wenige Tage nach der Vorführung bittet er mich in sein Refugium, ein zauberhaftes Wiener Biedermeierhaus in Wien Sechs. Hier scheint die Welt den Atem anzuhalten. Zeitgleich allerdings gerät sie aus den Fugen, denn hier lebt, arbeitet und zaubert Herr Stelzel, der von Ahnungslosen gerne als „Herr Magitsch“ angesprochen wird, wie er mir lachend versichert.
„Psychologie, Philosophie, Chemie, auch Germanistik, von alldem profitiert die Zauberkunst. Umgekehrt, man darf es sagen, bedient sie die Gelehrten, ist doch die neueste magische Erfindung auch Basis für so manche wissenschaftliche Erkenntnis. Dies in Kongruenz zu bringen, war seit jeher die Chance der Magier.“
Ich frage nach, was der Zauberspruch „Hokus Pokus“ bedeutet, und der Täuschungsphilosoph antwortet wie aus der Pistole geschossen: „Er leitet sich von der verballhornten Übersetzung der italienischen Worte ‚occhi‘ und ‚bocca‘ her: „Sperrt Augen und Mund auf, damit ihr nicht seht, was meine Hände tun.“
Robert-Houdin, Bosco, Döbler, Hanussen, Kratky-Baschik und wie sie alle hießen, in neuerer Zeit Copperfield, Siegfried & Roy, Kalanag und eben Magic Christian, sie alle erfanden und forschten, palmierten und eskamotierten. Und sie alle waren besessen von der Suche nach Wissen und Erkenntnis. Auch die neuen Mentalstars am Himmel über Las Vegas, The Clairvoyants, bedienen sich einer ausgefuchsten, neu entwickelten „Sprachtechnik der Gedankenübertragung“, die ihnen gestattet, ihre Illusionen in eine neue Dimension zu heben.
„Basis jedes Tricks aber ist die Fantasie des Zusehers. Sie darf, sie muss vorausgesetzt werden. Ohne sie wäre Zauberei nicht möglich. Erst der Wunsch nach dem Unmöglichen ermöglicht die Illusion. Und: Nichts geht über die Ablenkung des Publikums. Denn das Bemühen, hinter das Geheimnis der Illusion zu kommen (was schwierig ist, da ein Kunststück ja nichts anderes ist als bestens getarnte Realität), lässt den Betrachter in Bewusstseinslöcher tappen. Die Fallen, in die der aufmerksame Zuseher tappt, sind intelligent gestellt. Der eigentliche Trick ist meist schon passé, da der ahnungslose Betrachter zu denken beginnt“, sagt Magic.
Zauberei muss wie selbstverständlich wirken. Auch die verrückteste Behauptung verlangt nach einem plausiblen Ansatz. Dass es dann doch bloß Täuschung ist, ahnt der Verführte erst im Nachhinein. Dann aber ist nichts mehr aufzudröseln.
Die Zauberapparate des Herrn Stelzl
„Ein Kunststück darf niemals wiederholt werden. Beim zweiten Mal sind die Augen des Getäuschten nicht mehr verführbar. Das Wissen um den entscheidenden Moment ist der erste Schritt zur Enttarnung.“
Ich gehe durch ein verloren geglaubtes Paradies. In den Glasschränken liegen Zauberapparate, und während ich meine Nase an den beinahe blinden Vitrinen plattdrücke, bauscht sich der große, rote Vorhang des Salons und der Kopf des Zauberers erscheint. Magic Christian lächelt sein verschmitztes Lächeln und in seinen Händen erscheinen erst einzelne Spielkarten, dann ein ganzes Päckchen, das sich vervielfacht, verfärbt, größer und größer wird, bis die Karten fast mannshoch sind, zu Normalformat zurückschrumpfen, verschwinden, erneut erscheinen und vom Meister quer durch den Raum „geschnippt“ werden. Wie kleine Propeller sausen sie mir um die Ohren. Ich staune, lache, finde mich in einer anderen Welt wieder, tauche ein in meine Jugendzeit, werde zum Kind, greife mir eine Karte aus der Luft, gehe nach Hause, lege sie unter den Kopfpolster, schließe die Augen und – finde mich auf einer großen Bühne mit vielen Glühlampen wieder. Im Zuschauerraum sitzt meine staunende Großmutter, die sich von ihrem Platz erhebt und unter dem Applaus der Zuseher auf die Bühne steigt, mir über den Kopf streicht und mir einen scheuen Kuss gibt. Dann erwache ich. Mein erster Griff ist der unter den Kopfpolster. Ich halte eine Spielkarte in der Hand. Ich habe nicht zu träumen verlernt.
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