Tumgik
messersschneide · 1 month
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In interessanten Zeiten leben
Wisst ihr, was man im alten Rom früher sagte, wenn man jemandem ganz höflich und diskret einen schlechten Tag wünschen wollte? „Mögest du in interessanten Zeiten leben.“
Es gibt einen Tagebucheintrag von einem jungen Mädchen aus dem Jahre 1969, sie schrieb, dass sie in einem Kulturzentrum gewesen war, in gelben Cordhosen und einer Bluse, Ian hatte sie nicht beachtet, aber irgendjemand hatte ihr Schmuck in die Tasche gelegt, vermutlich Nicholas, UGH, so ein Creep, dieser Nicholas, schrieb sie, und ach ja: es gab 'ne Mondlandung.
Als es die Mondlandung gab, war ich noch nicht auf der Welt.
Als es die Anschläge auf das World Trade Center gab, war ich schon auf der Welt, aber noch nicht in Deutschland. Ich bin 2002 mit meiner Mutter eingewandert, damals gab es die Einladung an Russlanddeutsche sowie Menschen mit jüdischen Wurzeln aus den ehemaligen GUS-Staaten. Eine Art Reparation. Die Welt zu Gast bei Freunden.
Als 2006 zur Fußball-WM die Welt zu Gast bei Freunden war, war ich gerade vom Gymnasium geflogen.
Als Deutschland 2014 Fußball-Weltmeister wurde, klammerte ich mich an die Schultern meiner damaligen Partnerin, iranischer Vater, deutsche blonde Mutter, und weinte, und man klopfte an die Fenster ihres Autos und rief uns zu, Deutschland habe gewonnen, Deutschland sei Meister, Deutschland, Deutschland, Deutschland.
Als 2015 die PEGIDA-Demos (wer erinnert sich noch an PEGIDA) schon wieder weniger wurden, habe ich einen Auftragstext gegen PEGIDA geschrieben, es war ein verächtlicher Text, wie die meisten, wir nannten sie „Wahnmache“, wir nahmen sie nicht ernst, man müsse ja nun wirklich nicht mehr auf Bühnen nach Zustimmung heischen mit einem „Nazis doof“-Text vor einem Publikum, das genauso progressiv und gebildet und rundum gut ist wie wir selbst. Und Nazis sind dumm, deswegen berichtigten wir damals auf Facebook ihre Grammatik.
Als im Februar 2020 in Hanau ein rechtsradikaler Attentäter eine Shisha-Bar stürmte und neun Menschen mit Migrationshintergrund erschoss, hat die BILD-Zeitung geschrieben, dass es sich um eine sogenannte „Milieutat“ durch Russen handeln musste. Am nächsten Tag fand das Kölner Karneval statt.
Ich habe keine Ahnung, was ich an diesem Tag gemacht hatte. Ich habe nie Tagebuch geführt, so interessant ist mein Leben nicht. Wahrscheinlich Katzenvideos geschaut und Flusen aus meinem Bauchnabel gezogen. Wahrscheinlich das gleiche wie das, was ich einen Monat später im Corona-Lockdown gemacht hatte. Ich konnte es mir leisten, mich in interessanten Zeiten zu langweilen.
Wisst ihr noch, wo ihr wart, als der Faschismus wiederkehrte?
Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: „Ich bin der Faschismus“, sondern: „Ich bin der Anti-Faschismus“. Das sagte der italienische Schriftsteller Ignazio Silone 1978.
Das hat der italienische Schriftsteller Ignazio Silone vermutlich nie so gesagt.
Es gibt keine stichhaltigen Beweise, nur eine halb erinnerte Anekdote aus dem Buch eines Bekannten, nur einen lange nicht korrigierten Eintrag auf Wikipedia, nur ein Meme, ein Meme, ein Meme. Italienische Schriftsteller haben mehr Autorität, aber an Memes erinnert man sich besser.
Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: „Ich bin der Faschismus“, sondern, dass man die große Gefahr des Linksextremismus unbedingt ernst nehmen müsste, sich vor einem Linksruck schützen, linke Gewalttaten brennende Autos und Mülltonnen schwarzer vermummter Mob links links links.
Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: „Ich bin der Faschismus“, sondern: „Brennende Flüchtlingsheime sind kein Akt der Aggression, sondern ein Akt der Verzweiflung gegen Beschlüsse von oben.“, und: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.“
Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: „Ich bin der Faschismus“, sondern: „I bims, der Faschismus“, denn wir haben 2017. 2017 zog die AfD zum ersten Mal in den Bundestag ein, als drittstärkste Kraft.
Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: „Ich bin der Faschismus“, sondern: wir müssen die AfD mit den besseren Argumenten entzaubern, wir müssen den Dialog aufrechterhalten, wir müssen die Ängste der Bürger ernst nehmen.
Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: „Ich bin der Faschismus“, sondern: „Wir müssen die Grenzen dicht machen und dann die grausamen Bilder aushalten“ und „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“. Einer dieser Sätze stammt von Alexander Gauland von der AfD, einer von Olaf Scholz, SPD, amtierender Bundeskanzler. Ich sage aber nicht, welcher.
Als sich führende Persönlichkeiten der Neuen Rechten, hochrangige Politiker und ihre Unterstützer aus der Wirtschaft in Potsdam trafen, gab es deutschlandweit Demonstrationen. 250.000 Teilnehmende insgesamt. Nie wieder ist jetzt.
Als der Faschismus 1933 zum ersten Mal einkehrte, gingen 150.000 Menschen in Berlin auf die Straße. Fünf Tage später wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt.
Als ich die Schilder auf den „Nie wieder ist jetzt“-Demos gesehen habe, die Kacheln auf Instagram, stand in einigen davon: „Gegen AfD, weil ich Döner mag“. Wir brauchen Fachkräfte, wer stutzt euch den Bart, wer sticht den Spargel, wer wischt eurer dementen Oma den Arsch. Die Welt zu Gast bei Freunden, zu Gast, zu Gast, zu Gast.
Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er sagen: „Immerhin haben wir jetzt so viele Ausländer im Land, dass sich ein Holocaust mal wieder lohnen würde.“
Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er genau das sagen: „Ich bin der Faschismus“. Er wird lange genug gewartet haben. Er ist geduldig. Er war nie wirklich weg gewesen.
Ich bin 2002 mit sieben Jahren nach Deutschland gezogen. Mein Deutsch ist perfekt. Wenn ich wollte, könnte ich in den sozialen Medien die Rechtschreibung von Nazis korrigieren. Ich habe keine Angst. Ich habe lange keine Angst gehabt. Ich konnte es mir leisten, mich in interessanten Zeiten zu langweilen.
Ich bin migrantisch, aber immerhin weiß und mit deutschem Pass, ich bin bisexuell, aber immerhin nicht lesbisch und nicht transgender, ich bin psychisch krank, aber kann mich gut verstellen, ich habe jüdische Wurzeln, aber immerhin nur großväterlicherseits, ich bin gebildet, integriert, ich gehöre zu Den Guten. Ich bin ein Frosch im langsam aufkochenden Wasser, es ist warm, es ist nicht einmal unangenehm. Es ist alles in Ordnung, ich würde nicht zu den ersten gehören, die man an die Wand stellt.
Wenn der Faschismus wiederkehrt, was werdet ihr sagen?
Was werdet ihr tun?
Wann stellt man euch an die Wand?
Und wenn nicht euch, dann eure Freundinnen und Freunde, eure Partnerinnen und Partner, eure Familie, eure Nachbarn?
Vielleicht habt ihr sie nicht. Vielleicht habt ihr nichts zu verlieren als euren liebsten Dönermann. Dann bleibt der Topf, in dem wir kochen, für euch eben ein Whirlpool. Es ist kalt in Deutschland, es ist deutsch in Kaltland.
Bis ihr wieder sagen müsst, dass ihr ja im Widerstand wart, wie man es von euch erwartet.
Wenn der Faschismus wiederkehrt, weiß ich, was ich sagen werde. Diese Geschichte wird nicht mit meinem, nicht mit unserem Blut geschrieben.
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messersschneide · 5 months
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winter
a black alder's scarlet bulbs
hanging on to barren boughs
thin and edged like cracks
the blades
of grass still green
flat and patterned under
the prints of gripping soles
so stubbornly alive
the hard indifference
of steel against my palms
so weak and warm and naked
must serve as a reminder
to swallow the shards, the icicles
however they may scar my soft and scarlet insides
and keep them in my chest
where they may rest and radiate
and make me brilliant and impevious
to any warm and naked fingers
reaching through my ribs.
Let them freeze
and wither.
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messersschneide · 5 months
Text
Überlebenskunst
1.
holst du nochmal kurz den Kaffee
und mach schon mal die Spülmaschine an
und um die Betriebsweihnachtsfeier kümmerst du dich doch auch, oder
am Ende dieser Sätze stehen keine Fragezeichen
macht dir nichts aus, macht dir keine Umstände
du machst keine Umstände
nicht so wie die andere, die sich aufregt
weil ihre Idee im Meeting
angeblich
nur dann angenommen wird
wenn ein Kollege
ein Mann
sie noch einmal lauter wiederholt
dass die sich so aufregt
als ob ihr alle Ideen gehören würden
deine Ideen gehören längst nicht mehr dir
sie schwirren einfach in der Luft wie der Duft von frischgebrühtem Kaffee
frisch von dir gebrüht, natürlich
Leute wie du müssen gar nicht mitgedacht werden im Aufbau dieser Maschine
sie sind sowieso immer da
im Klackern des Geschirrs, der Tastaturen
im kalten Schein des Bildschirms
wenn es draußen schon dunkel ist
nach Dienstschluss
Leute wie du
Leute
Frauen
Frauen müssen mitgedacht werden, weil sie ja Kinder bekommen könnten, dann fallen die ja aus und Lohnfortzahlung und alles
du hast keine Kinder
das ist, was du am besten kannst, keine Umstände machen
einmal
als es draußen schon dunkel war
im kalten Schein eines einzigen Bildschirms
gingen die Lichter aus, alle
und waren die Türen nicht härter, lauter als sonst zugefallen,
endgültiger?
Und dann saßest du da im unbeheizten Großraumbüro mit deiner Handytaschenlampe
und hast dir vom mitgebrachten Essen deiner Kollegen genommen
nur so viel, dass es nicht auffällt
du fällst niemandem auf
und am nächsten Morgen warst du einfach noch pünktlicher als sonst
und so merkwürdig stolz auf dich
und du fragtest dich, was denn passieren würde, wenn die Türen nicht wieder aufgegangen wären
wenn deine Kollegen nicht gekommen wären
wenn der Morgen nicht gekommen wäre
wie lange hättest du das noch gemacht
wie lange hättest du noch Daten in Tabellen übertragen
hättest du irgendwann zwischen die Bodenfugen gepasst
in die Poren der Wände
ganz bestimmt
hätte dir überhaupt nichts ausgemacht
gar keine Umstände
du bist wie eine Kakerlake, du würdest einen Atomkrieg überleben.
2.
jetzt hat sie es schon wieder getan
die Nase gerümpft und sich weggedreht, so ganz demonstrativ
als du den Kollegen zur Rede gestellt hast
weil er es schon wieder getan hat
im Meeting deine Idee wiederholt, nur lauter und tiefer
und mit Schwanz in der Hose
und deine Kollegin, sogenannte, dreht sich weg
es hat ja alles nichts mit ihr zu tun
sie ist ja eine von ihnen
one of the boys
wenn sie die Nase rümpfen
nur weil du mal ein neues Piercing hast oder blaue Haarspitzen
dann rümpft sie fleißig mit
und wenn er es wieder macht
wenn er dir auf den Hintern glotzt
deinen jungen Hintern
dann glotzt die Kollegin gefälligst woanders hin
hat ja alles nichts mit ihr zu tun
deine Kollegin ist so alt
so alt
sie könnte deine Mutter sein
deine Mutter hat nie gearbeitet
nur zu Hause gesessen und den Abwasch gemacht und dich erzogen
du weißt nicht, ob sie nie arbeiten durfte
ob sie gerne malt oder tanzt oder Vögel beobachtet
wie soll man jemandem intersektionalen Feminismus erklären, der nur Arztromane liest
und dein Vater sagt an Weihnachten, dass man die Klima-Kleber doch einfach überfahren sollte, die wollen‘s ja nicht anders
solche Leute
Leute
Leute wie du
du bist jung, und das wird man dir nie verzeihen
sie sind alt, sie kennen‘s nicht anders
mit ihnen hat das alles nichts mehr zu tun
aber ihr seid jung
zäh
wie Kakerlaken
ihr würdet einen Atomkrieg überleben.
3.
jetzt hat sie es schon wieder getan
dumme Göre mit blauen Haaren und Blech im Gesicht
mit den Hacken ihrer Schuhe deine Finger auf dem Boden verfehlt, ganz knapp verfehlt
deine schwieligen, seifenlaugigen Finger
sie waren mal feiner, haben ein Universitätsdiplom gehalten
in deiner Heimat
wie lange ist das jetzt her
sieht man dir nicht an, gar nicht
die hat bestimmt keine Kinder, so, wie die aussieht
hier in der Firma hat niemand Kinder
Männer haben keine Kinder
nicht so, wie ihr sie habt
ihr
ihr
ihr Frauen
drei Söhne hast du großgezogen, in deiner Heimat und hier
in der Firma und zu Hause tauchst du deine Hände in Seifenlauge
wäschst ihre Boxershorts
wachst über ihnen bei ihren Hausaufgaben
helfen kannst du ihnen nicht, ihr Deutsch ist längst besser als deines
sie sollen es einmal besser haben als du
so schwer ist das nicht
sie sollen eine ordentliche Ausbildung machen
oder irgendeine Ausbildung
sie sollen arbeiten
sie sollen sich zusammenreißen
sie sollen sich nicht ablenken lassen
von dummen Gören mit blauen Haaren und Blech im Gesicht
das muss man sich erst leisten können
keinen guten Eindruck machen zu müssen
und dein Jüngster lackiert sich jetzt die Nägel
als ob niemals Hacken auf diese Finger treten würden
und die andere
die, die immer als letzte das Büro verlässt
tritt fast deinen Eimer um
aber du sagst nichts, wozu auch
du reißt dich zusammen
du hältst das schon aus
du hast schon ganz anderes ausgehalten
du bist wie eine Kakerlake
du würdest einen Atomkrieg überleben.
Epilog.
Dieser Text handelt nicht davon, wer es schwerer hat.
Dieser Text handelt von dem, was ihm fehlt.
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messersschneide · 8 months
Text
Heimsuchung
Woran ich glauben will:
ein Klopfen ans Bettgestell
flatterndes Nachtweiß
kahle Zweige, greifende Hände
im Mondschatten
rasselnde Ketten halten sie
fest an den Orten ihrer
Heimsuchung
sie wiederholen sich
schleifen
hinter die gelbe Tapete
die Immergegenwärtigkeit
Wiederkehr
Heimsuchung des ewig Gleichen
woran ich glauben will: Rache
Flecken auf weißen Laken
rostrot
kahle Zweige, greifende Hände
an Mörderhälsen
woran ich glauben will: Rache
Flecken, Risse, Schneisen
rostrot
durch die gelbe Tapete
deiner Gedankengänge
nicht bloß angekettet sein
auch wiederkehrend
heimsuchend
immergegenwärtig
unvergesslich
mein Hals in deinen Mörderhänden
you said I killed you
haunt me then
woran ich glaube:
was ich sehen, riechen, schmecken kann
tasten
an der gelben Tapete entlang, dahinter
nichts
als poröser Beton.
woran ich glauben will
heimsuchend, heimatlos, allein:
dass ich es nicht bin.
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messersschneide · 9 months
Text
Die ersten Wörter
Die ersten Wörter
auf Deutsch, die ich kannte:
„Was ist das“.
Alle folgenden: Klangschalen
noch zu füllen
mit Inhalt
mit Trunk, квас, Honigmilch, ambrosia
mit Sinn
stillend, schwappend
über den Zaun der
Asylbewerberunterkunft
- so ein deutsches Wort.
So ein deutsches Wort:
Asylbewerberunterkunft
was mir auf der Zunge liegt
von den Lippen rollt, unaufhaltsam
verrät mich jedes Mal.
Die ersten Wörter
auf Deutsch, die ich sprach
blieben mir im Halse stecken.
In jeder Sprache
ein Kratzer Fremdheit
durch Rachen, Munddach, Gaumenzäpfchen
reißen sie Schneisen
die Widerhaken meines Akzents.
Die ersten Wörter
auf Deutsch, die man mir
in die Haut stach:
Spuren hinterlassen.
Nicht zu vergessen,
nie, nicht zuzulassen,
dass ich es vergesse:
du wirst nie perfekt klingen
nie perfekt sein
nie perfekt
bis du deine Ehrfurcht verlierst
dir nimmst, was dir nicht gehört
bis du sie findest
die Schwerpunkte dieser Sprache
die schwächsten Glieder
die Sollbruchstellen
und sie in Form
und Inhalt
und störrischem Sinn
biegst
und schleifst
und gefügig machst
dass sie nachgibt wie Daunen
und sticht wie ein Federkiel.
Die ersten Worte
auf Deutsch, die ich schrieb
hatten keinen Akzent
Schrift, nicht auszusprechen -
so ein deutsches Wort -
ist eine 1 im Zeugnis
ist erstickter Zweifel
ist perfekt.
Die ersten Worte
geschrieben von eigener Hand
ohne Noten, ohne
prüfenden Blick im Rücken
sind immer gestohlen.
Die ersten Worte, die
man spricht, ohne Antwort zu geben
unerhört
diese Frage
ist es wert
ist es wirklich
ist es wirklich wert
gesagt zu werden
jedes Ja versenkt seine Widerhaken im Rachen.
Wenn etwas fehlt
wenn ich es nicht sage
was für ein erregender
schwindelerregender
unerhörter Gedanke.
Jedes Ja in gestohlener Sprache
ist es wert gewesen.
Die ersten Worte
die man stiehlt
sind ein Federkiel
im Schmetterlingsleib der Unfassbarkeit
(wie unerhört
an die Fassbarkeit der Welt zu glauben
unerhört
so ein deutsches Wort)
Ich steche ohne Glauben
das erste Wort
auf Deutsch
woran ich glaubte:
trotzdem.
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messersschneide · 10 months
Text
sparrow
it left no trace, no dent
no blood, only
splinters buried neatly
in soft, invisible flesh
the windowpane, reverberating
but unbroken, the beak
opening and closing, silently
stubbornly opening and closing
heart racing in vain
in the hollow of my palm, and I asked myself if
the sparrow died as senselessly
as all of us will, or
if the gnawing teeth of predators
would make my life more
precious
if hollow bones break faster
and if I were to lie
in the smooth paw of a giant
bloodlessly impaled, my mouth
opening and closing, silently
stubbornly, hopelessly
opening and closing
if I were to waste
my life under an indifferent gaze
if I were to die
would I cry for help
or mercy
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messersschneide · 11 months
Text
Unsachliche Romanze
Der Abend wurde wieder lang dein Blick ist schlafverhangen der Schimmer vom Laternenlicht ruht noch auf deinen Wangen. Tags halte ich mich fern von dir, ich grüße dich nicht gern, doch ich verabschiede dich immer.
In einem Luftzug lockt der Rauch sich wie dein langes Haar ich nehm ihn restlos in mich auf und du nimmst mich nicht wahr.
In einem Zug verlöscht die Glut an der du dich noch wärmst. Ich rede viel, ich sage wenig, meine wenig ernst, verschleier mich in Ironie, ich halte mich bedeckt, in einem toten Winkel bleibe ich dir nah und gut versteckt.
Ich würd dich gerne malen mich schlangenhaft um deine schlanken Knöchel winden dich ausmessen wie eine unerforschte Mondlandschaft wenn‘s dich nicht gäbe, würd ich dich erfinden dich wie eine Skulptur aus Marmor schlagen. Nur unsre schwarzen Lungen sind sich ähnlich ich neid‘ dir alles, was wir nicht gemeinsam haben.
Du bist so furchtbar nett zu mir, so höflich, gibst mir keinen Angriffspunkt und ich würd‘ mich so gern in dich verbeißen aus deiner kalten, glatten Hülle kann ich nicht einen Fetzen reißen ich kann mich in dir nicht spiegeln und komm dir nicht auf den Grund.
Ich würd‘ dich aufheben wie einen glatt geschliffenen Stein dich zwischen meinen Fingern halten gegen‘s Licht und meine Nägel gegen deinen schönen Schein in deine Hülle drücken, bis sie bricht und ich die Risse in dir nachvollziehen kann.
Wobei -
so weh will ich dir gar nicht tun. Lieber will ich mich hin-, will ich mich dir ergeben,
komm, besiege, komm, vergifte, komm, vernichte mich. Reiß mir mein letztes Hemd vom Leib, stoß mich in die kalte kalte Gischt, Wellen, in denen ich beständig an die Oberfläche treib, so sehr ich auch ertrinken will, bleib mit dem Knie auf meinem Brustkorb, aber bleib. Leg deine Hand auf meinen Mund, halt mich fest, und halt mich still.
Ich lüg‘ nicht gerne, und es liegt mir fern, zu sagen, was mir noch glühend auf der Zunge liegt. Es ist bestimmt nicht Liebe – wie leicht es von der Zunge geht, wie schwer es wiegt. Das, was ich von dir will, ist flüchtig, wie Kokain ein allzu kurzer Rausch, ein Stich, der mich erweckt, mein Herz ins Stolpern bringt, mir morgens ätzend in den Nasennebenhöhlen steckt - es wirkt so schnell, wie es verklingt, es macht genauso süchtig.
Ich gier‘ nach allem, was sich mir nicht gibt, nähr‘ selbst den Hunger, den du mir nicht stillst, vielleicht hab ich den Schmerz weit nötiger als dich wenn du nicht willst, setz‘ ich den Stich mir gern ins eigne Fleisch.
Auf meiner Schulter liegt noch deine Hand, derweil ich noch an deinen Lippen hänge ein dichter Nebel legt sich mir um den Verstand für dich dauert‘s nur eine Zigarettenlänge.
An Worten, die ich finde, halte ich mich fest, das, was sich gut in Worte fassen lässt, lässt besser sich ertragen. Ich bin nicht ganz verrückt nach dir, ich spinne dein strohblondes Haar zu Gold, kann mit dir ganze Seiten füllen, eine banale Wahrheit in Metaphern hüllen, doch ich hab dir nichts zu sagen.
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messersschneide · 11 months
Text
toothbrush
you don’t know where your first cat died
(it made sure
as they do
that you wouldn’t)
somewhere in Belarus
fungus is growing out of its bones
the second cat died in your mother’s lap
in a Jewish cemetery
right beside your grandfather
she buried it clandestinely
he didn’t have time to die back home
to burrow into a soil that knew him
away from pitying, loving gazes
as cats do
you never visited his grave
he never hated you
fifteen years later you’ve stopped hating him
your former lover
(so kind
so kind you’ve never written poems about them)
has taken your paintings off their walls
might send them back to you
might still be worth something
might still be worth more than your broken promise
your mother asks you about them
your mother keeps your drawings
and CDs and clothes and documents
your mother no longer cries when driving by your old flat
your mother has new cats now
they hiss when you visit
every seven years
the cells you’re made up of
have renewed themselves completely
the biggest of your scars is fifteen years old
sometimes, when you least expect it
it starts to throb
somewhere in a landfill
the first toothbrush you’ve ever used
refuses to rot
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messersschneide · 1 year
Text
Wolf
when you see the wolf, will you
remember the stories they told about it, will you
search for a grandmother‘s face
behind the bared and glistening gums
will you be Red Riding Hood
or the hunter
or a piece of nameless flesh
to be torn and digested
as the wolf, big, bad,
does every damn day?
when you see the wolf, will you
notice the bald spots on its ribs
bones over a stomach
which most days
curls itself around a growling emptiness?
when you see the wolf, will you
ask yourself how much that fur might get you
when draped around the shoulders
of rich vacationers, or
how it might feel for the cubs
gnawing at its teat with little teeth that
they have yet to put to use?
when you see the wolf
crouching on a rusted car roof
will it be through the crosshairs
your wolf, the last one?
will you
think of the bared and glistening gums
of the dogs snatching chicken off the enclosure
every damn day
only to return
to the warmth of familiar laps
sated and content?
when you see the wolf
will it see you too?
when you, fingers curled
around the beak of a chicken you snatched,
climb through the brittle wood
fencing nothing of value
to anyone but rich vacationers
in wolves‘ clothing,
when you see the wolf
vanish behind the planks, then
the shot you‘ll hear will be meant for you.
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messersschneide · 1 year
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youtube
Beitrag für "Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen", ab Februar in der dazugehörigen Anthologie von S. Fischer.
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messersschneide · 2 years
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Rauchen
Ich weiß genau, warum ich früher nie mit dem Rauchen anfangen wollte: Der Geruch in den Küchengardinen und im Laminatfußboden, wie meine Mutter sich immer im Bad und auf dem Balkon einschloss, vor allem im Bad, das schmutziggelbe Bad und die braunen Linien zwischen den Kacheln und der Staub im Luftdurchzugsgitter. Die Drainage am Bauch meines Großvaters, weißer Mull schmutziggelb und braun. Der trank aber auch, vielleicht kam das deswegen.
Heute rauche und trinke ich auch. Das heißt wohl, ich bin erwachsen geworden.
Ich weiß genau, warum ich meine erste Zigarette geraucht habe. 18. Geburtstag, zum ersten Mal offiziell – und freiwillig – Alkohol, und das Mädchen, das mir den Long Island Iced Tea bestellt hatte, hatte eine Zigarette zwischen ihren vollen, vollen Lippen, und sah so schön dabei aus, so schön. Die nahm ich dann.
Ich weiß genau, warum ich mit dem Rauchen angefangen habe. Das war Jahre später und eine Frau. Als sie weg war, kaufte ich mir meine erste Packung. Vielleicht rauche ich meine letzte, sobald ich sie wiedersehe. Das ist jetzt neun Jahre her.
Ich habe schon sehr oft mit dem Rauchen aufgehört, ohne zu wissen, warum. Vielleicht war ich da nach anderen Dingen süchtiger.
Ich weiß genau, warum ich früher immer ein Feuerzeug mit mir trug, auch wenn ich gerade wieder aufgehört hatte mit dem Rauchen: mein Feuerglanz in den Pupillen von Frauen, deren Haare sich lockten wie Qualm in Windstille, und lockten, lockten, lockten.
Ich weiß genau, warum ich damals die erste Zigarette auf meinem Arm ausdrückte. Das ist jetzt neun Jahre her. Vor neun Jahren, als die Frau noch da war, habe ich sie darum gebeten, dass sie es für mich macht.
Ich weiß genau, warum ich damals, vor neun Jahren, Zigaretten auf meinen Armen ausdrückte. Die Schnitte sind länger her. Da weiß ich es nicht.
Ich hatte einen Mann kennengelernt, der nicht raucht. Aber von alten Blasen blieben die Narben und Einsamkeit hing noch immer schmutziggelb und faulend an den Lungenästen, auch wenn ich nach ihr nicht mehr süchtig war. Als ich auf dem Bordstein saß, von ihm abgewandt, Zigarette zwischen zitternden Fingern, nahm er sie mir ab und zog daran. Ich hatte mich lange nicht mehr so wenig einsam gefühlt.
Ich habe ihn verlassen. Ich weiß nicht, ob er vielleicht wegen mir selbst mit dem Rauchen angefangen hat, wie ich es vor neun Jahren getan hatte, eine Kettenreaktion, ein Erdrutsch. Ich verlasse, ich packe meine Umzugskartons nicht aus, ich sitze am Rand mit abgespannten Schenkeln, es gibt nichts und niemanden, den ich nicht verlassen, womit ich nicht aufhören könnte, nichts, wonach ich süchtig bin.
Ich fahre mit der Zigarette über die größte meiner Narben, ich schreibe mit Jahren Abstand, ich warte, ob da noch was kommt.
Wenn die Zellen, aus denen ein menschlicher Körper besteht, sich alle 7 Jahre komplett erneuern, warum wachsen Narben immer wieder nach, so wulstig stur auf sich selbst hinweisend? Warum hat mein Körper nichts gelernt?
Ich bin 29 und genau so, wie ich mit 20 werden wollte: kalt und gleichgültig wie erodierter Boden und gegen keine einzige Berührung mehr empfindlich. Mit 20 habe ich mir die Krankheit zur Komplizin gemacht. Zwischendurch habe ich sie mit dem Glück betrogen – jetzt, mit 29, habe ich das Gefühl, dass nicht einmal sie mich noch will.
Ich weiß, warum ich rauche: damit es brennt. Ich weiß, warum ich am liebsten blaue Gauloises rauche: die brennen am stärksten. Ich weiß, warum ich die Zigaretten nicht mehr an meinen Armen ausdrücke: meine Arme können alle sehen, meine Lunge niemand.
Ich weiß genau, was ich tue. Ich kenne meine Diagnosen, ich habe eine Erklärung, eine Ausrede, gute Gründe für alles. Nur warum ich wieder mit dem Rauchen angefangen habe, weiß ich nicht.
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messersschneide · 2 years
Text
Fieber
Was in meinem Hals rasselt
ein Brunnen
unerreichbarer Grund
Was an meinen Lungenästen wächst
und verfault wie überreifes Obst
Was sich in meinen Zellen fortschreibt
fortschreitend sich kopiert
mich okkupiert
keine Zelle selbst, kein Selbst
bloß Richtung, Programm
hat mir längst bewiesen: wo ich aufhöre
und beginne
geht nicht allein mich etwas an.
Aber
Was mit Kolibri-
herzfrequenz
als unlöschbare Kälte
von innen gegen meine Wände schlägt
Was mir sagt: hier
sind deine Wände, hier,
und hier, und
hier
Was mich außen nachzeichnet
glühend warm
Poren und aufgestelltes Haar
- Was mich angeht:
dem glaube ich eher.
Was ich studiert habe
ist Fieber als Verteidigungskrieg
Was ich begreife
ist em-bodiment als Um-armung
der festestmögliche Griff
einer Boa Constrictor
Was ich sehe
ist der Fehler der Bandwurmsegmente
Ver-körper-ung
ver-irrt, ver-strickt, ver-liebt
Was ich suche
kratzend, grabend
sind Risse
Fluchten, Luftlöcher
jenseits der Silben, Bindestriche
der Sollbruchstelle
vielleicht werde ich so
endlich
gesund.
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messersschneide · 2 years
Text
Die Hand meines Vaters
Woran ich geglaubt hatte: Dunkler Himmel, blauer Schnee, tiefer Wald, der sich lichtet. Sohlen, die durch die Kruste brechen. Nicht mehr nur Sohlen – dass es Pfoten sind, hört man nicht sofort, kann man nicht wissen. Woran er gerne geglaubt hätte. Dann wusste er es besser. Zischendes Fett über dem Lagerfeuer, gelber Schimmer über blauem Schnee, Pfoten, die durch die Kruste brechen, einer nimmt einen Holzscheit, einer die rußige Zange. Knurren, Zähnefletschen, Pfoten auf der Brust, Krallen, die den Mantel aufreißen, so schwer, wie viel schwerer als ein einzelner Mensch, Reißen und Knacken und auf dem blauen Schnee schwarzes Blut, nicht nur das eigene, das Fell, wie fühlt sich das Fell an, ganz rau oder weich und dicht für den tiefen Winter, ein Schlag, der nicht einen selbst trifft, Lagerfeuer und Holzscheit, das Fell, wie riecht es, wenn es brennt. Die Hand – Reste davon – im blauen Schnee – unter der Kruste weich wie Daunen – es ist kalt, es hilft.
Woran ich glaube: Ich, vielleicht fünf, nicht älter als sieben, klein genug für Schöße und Märchen. Ich spanne meine Schenkel an auf dem Schoß, auf dem ich sitze, ich hatte das nie gemocht, die Hand, die nach meinen dünnen nackten Armen greift, hat einen Daumen und sonst nur sauber verwachsene Stümpfe, als wäre da nie etwas gewesen. Greifen, festhalten kann sie noch immer, schmerzhaft sogar. Willst du wissen, wie mir das passiert ist, Maschka?
Ich weiß nicht mehr, ob mein Vater Links- oder Rechtshänder war. Ich spule die Erinnerung noch einmal zurück, wie einen Film, den es wirklich gibt, wie Beweismaterial, Nahaufnahme und Pause. Woran ich glaube: dass es die rechte war.
Immer wieder vergesse ich, meine Mutter danach zu fragen. Ob sie es selbst noch weiß? Sie trägt den Namen ihres ersten Ehemannes. Ich trage den Namen meines Vaters. Kaum vorstellbar, welcher dieser Männer ihr weniger bedeutet. Willst du wissen, wie es passiert ist, Maschka?
Woran ich glaubte: Zu groß und zu alt für Schöße und Märchen, ein linkischer Teenager am Erwachsenentisch, der sich mit Kindern nicht mehr unterhalten kann. Ich schaue Filme von Tarkovsky, man schaut mich an wie ein dressiertes Tier. Für Erwachsene: Anekdoten, keine Märchen. Wie Viktor sich damals mit der Axt die Finger abgesäbelt hat, blau, wie er war. Der Bär? Welcher Bär? Im Winter auch noch? Daran hast du geglaubt, Maschka?
Heute erzähle ich das als Anekdote – über mich. Woran ich damals glaubte. Wenn es eine Anekdote war, kein Märchen, der Alkohol, die Axt, dann muss es ja stimmen. Wenn ich es erzähle, Freunden, Bekannten, Dates, dann staut man, und lacht, wie es sich gehört bei Anekdoten, und das reicht.
Er hatte es mir nicht selbst erzählt. Ich hatte ihn nicht gefragt – oder? Kein Film in meinem Kopf, der das beweisen könnte.
Woran wir nicht glaubten: BAföG-Antrag, Einwohnermeldeamt, Russisches Konsulat, nein, seit dem und dem Jahr kein Kontakt, keine aktuellen Daten, nur letzter bekannter Wohnort. So schnell kann das gehen, so schnell. Letzte E-Mail im Postfach von vor einem Jahr, immerhin.
Ich vergesse nicht, meine Mutter zu fragen, es ist Absicht. Die Mail im Postfach, die Antworten, die ich ihr früher noch diktiert, der Mann, der ihr nichts bedeutet, aber mein Vater ist, warum muss ich das machen, es ist dein Vater. Der Mann, der mir nichts bedeutet. Ich kann das doch nicht alleine schreiben, auf Russisch, kann man als Kind ein Elternteil vernachlässigen? Die Muttersprache? Es ist Absicht.Er hat mir nie gefehlt, das letzte, was mir gefehlt hätte, wäre noch ein Erwachsener gewesen, der mich erziehen will. Ich lasse mir kein Loch ins Herz graben, nur weil es anderen fehlt, ich bleibe, unberührter, glatter weißer Schnee. Woran ich glaube.
Ich vergesse nicht, meine Mutter zu fragen, es ist Absicht. Wozu brauchst du das, was erzählst du da für Sachen, lass mich da raus, ja? Meine Mutter ist eine Funktion in einem literarischen Text, Fiktionalität und Literarizität sind Ergebnisse von einem bestimmten Verhältnis des oder der Lesenden zum Text, ontologische Indifferenz, das alles kann ich Studierenden in Seminaren erklären, aber meiner Mutter? Die nicht mehr nur eine Funktion ist, die will, dass ich sie da rauslasse? Und meinem Vater?
Ist er Links- oder Rechtshänder? Wie sah die Hand wirklich aus, hatte er damals noch einen Daumen, oder doch bloß einen Stumpf, wie sauber waren die Stümpfe verwachsen? Ich grabe mit nackten Fingern ein Loch in den Schnee. Ich durchbreche die Kruste, ich suche die Spuren der Tatzen, die Vodka-Flasche, das Blut. Ich spule einen Film zurück, der nicht einmal eine Erinnerung ist, der erst entsteht, wenn ich ihn schreibe, und was ich versuche zu sehen, brennt seine Umrisse über jede Spur von damals, die mir noch bleibt. Und was, wenn nicht? Was passiert mit Erinnerungen, an die man sich nicht erinnert? Was, wenn es keine gibt? Ist es besser als nichts? Vielleicht fange ich an, daran zu glauben.
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messersschneide · 5 years
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Abschied
(Im Rahmen des Artville-Festivals für das #000 Kollektiv: Brief an die Zukunft)
Öffne diesen Brief, wenn es Tag ist, was du weißt, aber nicht siehst, denn sehen kann und will diese Tage niemand mehr von euch; wenn es Tag ist und du nicht schlafen kannst und das Denken in dir einmal wieder niederringen willst, denn das Gefährlichste, was man tun kann, ist es, in den Tag zu gehen und zu denken; wenn du es nicht mehr aushältst, auch wenn ihr alle in den letzten Jahren besser wurdet, und auch besser werden musstet im Aushalten.
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Seit die Laternen ausgingen, verbringt ihr die Nächte unter neu bevölkertem Himmel. Es ist vielleicht nur gerecht, das wirst du dir bestimmt oft gedacht haben. Die Sterne über euch in bunten Wirbeln und Nebeln, und du wirst versucht haben, es schön zu finden. In Wahrheit vermisst ihr alle die stumpfe kupferne Kuppel der Lichtverschmutzung, die ihr längst nicht mehr so nennt, die ihr zu einem schützenden Schirm verklärt, ihr denkt an unsere durchgemachten Nächte in niemals schlafenden Großstädten und Blicke in den Himmel, und wie wir uns damals tatsächlich noch beschwerten, dass man die Sterne nicht sah. Du schaust nicht mehr hoch, immer nur auf den Lichtkegel des tragbaren Scheinwerfers – alles muss tragbar sein – über grauen Sand und verdorrtes Geäst. Die Riemen deiner Tasche schneiden dir in die Schulter. Weil alles tragbar sein muss, gingen die Laternen aus, für wen sollten sie noch leuchten.
Ihr kratzt die Fäulnis aus den Konserven. Über dem Feuer platzen die Schaben in den Pfannen. Alkohol gibt es genug – was heißt „genug“? – daran habt ihr gedacht. Kokain gibt es noch mehr als genug auf der Welt, auch Speed und Meth und Ecstasy, niemand nimmt das mehr, weil es euch wach macht und zu viel Welt fallen lässt durch eure aufgebrochenen Sinne. Teuer erkauft habt ihr euch dieses Bisschen Zeit, und ihr tut alles, um sie nicht erleben zu müssen.
Manche ziehen ihre Hosen herunter bis zu den Kniekehlen und verkeilen sich ineinander, manche lehnen sich abseits der Gruppe gegen einen Stein, die reibende Hand unter dem Hosenbund, auch du tust das lieber, weil du niemanden von ihnen leiden kannst, fünf, sechs, sieben mal hintereinander ein paar Sekunden Rausch aus deinem Körper herausschlagen, bis du dich verbraucht hast, schwer atmend niedersinkst, deine klebrige Hand liegt im Staub.
Nur das ganz Alte, Bewährte, möglichst Vorsprachliche taugt noch, um die Langeweile zu vertreiben. Selbst die Lagerfeuerlieder sind instrumental, seit niemand mehr etwas zu sagen hat. Geschichten sind gefährlich geworden, weil sie an früher erinnern, und gute neue fallen niemandem mehr ein, weil eure Gegenwart es nicht wert ist, erzählt zu werden. Nichts aus der alten Zeit ist noch verwendbar, nicht The Walking Dead – die hatten die Lage noch unter Kontrolle, nicht Shakespeare – die hatten keine verdammte Ahnung, was kommt, nicht die Verbannung von Eva und Adam – die hatten wenigstens noch einander.
Niemand, der nicht seine eigene kleine Verblendung mit sich trägt oder im Lager bunkert, und wer es nicht täte, dem dürfte man nicht trauen. Die meisten haben Geldscheine, sogar Kreditkarten in ihren Taschen eingenäht, Zahlen auf Papier, um irgendwann Schulden einzutreiben. Alle haben noch ihre Haus- und Wohnungsschlüssel. Flachbildfernseher und Laptops verstauben in euren Gängen unter der Erde. Manche Frauen tragen Schminke auf und rasieren sich Beine und Achseln. Von Berufen wird nie im Präteritum gesprochen – „ich war nicht, ich bin CEO“. Auch du hast einen Laptop, auf die Gelegenheit, ihn einzuschalten, wartest du noch. Du hast USB-Sticks mit deinen Texten aus dem Studium, Bachelor- und Masterarbeit, deiner Kurzprosa und deinen Romanmanuskripten. Mittlerweile verstehst du nicht, wieso du darauf immer so stolz warst. Du hast Stifte und Papier für die schlaflosen Tage, fast leer sind die Seiten, weil du dich, wie alle, vor deinen eigenen Gedanken fürchtest. Du hast Batterien, von denen niemand etwas weißt, einen Discman und deine Lieblings-CDs.
Im Widerschein der Flammen siehst du die Adern auf ihrer fahlen Haut, die abblätternden Schuppen, das rote Zahnfleisch und die offenen Wunden, sie sind klein, werden aber niemals weniger, noch immer musst du aufstoßen, aber du weißt, die auf der anderen Seite des Feuers sehen das selbe. Du bist alt, denkst du, schon 56. Aber noch nicht alt genug, um allein deswegen zu sterben.
Greta Thunberg wurde schon vor Jahrzehnten erschossen. Ihr Gesicht auf den Häuserwänden und Mauern will nicht verbleichen, immer als Madonnenbild oder Jeanne d'Arc in metallener Rüstung, wie peinlich.
Der Tod ist ein bronzener Bulle, der Tod ist eine hohe Gewinnmarge, der Tod ist Konkurrenzfähigkeit, Innovation, Freiheit, Lebensstandard, der Tod ist der Wirtschaftsstandpunkt Deutschland, dem Tod seid ihr so gleichgültig, wie er es uns lange gewesen ist, der Tod kann euch nicht begnadigen und will euch nicht bestrafen, er wartet auch nicht, das ist bloß euer Versuch, ihn euch zum Feind zu machen, weil man einen Feind wenigstens noch besiegen kann, ihr seid es, die warten, und Warten ist das Einzige, was euch noch bleibt.
Du siehst einen CEO im K-Hole mit einem dunklen Fleck im Schritt seiner verkrusteten, einzigen Hose.
Eine von euch trägt ein Kind in ihrer löchrigen Decke. Ein Kind. Wie konnte sie nur.
In Wahrheit wart ihr erleichtert, als das Sterben ein Ende hatte. Es gab keine Lösung, Lösung konnte man das nicht nennen, der Welt waren nur die Leben ausgegangen, und eure Erleichterung war die, die man fühlt, wenn der Körper unter dem aufs Gesicht gedrückten Kissen endlich nicht mehr zuckt. Früher ging uns allen ein Schauer über den Rücken, wenn wir bei ungehorsamer Technik den Finger sekundenlang auf dem Ausknopf ließen. Irgendwie war das doch makaber, und wir waren ja keine schlechten Menschen.
Ich frage mich, ob du wütend auf mich bist. Wir haben es ja alle gewusst. Das Wissen zieht sich durch unsere Heilsgeschichten, unsere Heilungsgeschichten, jeden einzelnen Bestseller, der behauptet, den Krebs könne man tatsächlich besiegen wie einen Staat, der einfach weniger lebende Körper vor die Bomben werfen kann. Es zieht sich durch Nietzsche, Sartre, Camus, ungeöffnet in unseren Bücherregalen, zwischen Zeilen, die uns nach draußen weisen, in den brennenden Regen, wo Funken fallen auf die Netzhaut unserer endlich offenen Augen und wir es zugeben, lachend, es ist alles sinnlos, sinnlos, sinnlos. Es zieht sich durch jede Leugnung.
Nichts stand uns jemals zu.
Wir sind schuld, und alle vor uns, aber euer Zorn und eure Rache erreicht uns nicht über die 30 Jahre Abstand. Ihr habt niemanden mehr, bei dem ihr euch beschweren könnt, niemanden, der euch die Rechte, die wir geschrieben haben, wirklich gibt, niemanden, in dessen Schoß ihr weinen könnt, lange und kalkulierend wie ein schuldiges Kind, das um Mitleid heischt, um einen Rutenschlag weniger, um Vergebung.
Das schuldige Kind kam als Waise zur Welt.
Wir dachten, dass uns mehr Zeit zusteht, wir konnten sie uns leisten. Wir kauften uns mehr Zeit für Angst. Wir haben die toten Körper zusammengeworfen zu immer höheren Dämmen, sie brachen nicht zusammen, sie leckten bloß, das ist, was wir uns leisten können, doch das Wasser auf dem Boden sickert durch die besten, teuersten Schuhe. Wir, du und ich, nicht einfach nur die anderen, wir, die es doch schon immer gewusst haben.
Angst ist nur noch eine dumme alte Gewohnheit aus der Zeit, als es noch Möglichkeiten gab. Was hast du denn getan, als du noch ich warst, welche Möglichkeiten hast du genutzt? Ab und zu Münzen in die Schöße von Obdachlosen geworfen, so oft kein Augentakt, um nicht einen Teil deiner eigenen Möglichkeiten in ihnen zu sehen, um nicht zu sehen, wie wenig einem auch hier bleiben kann. Müll getrennt, Plastik gemieden, auf Fleisch verzichtet, weil es dir leicht fiel, sagtest du doch selbst, nur deswegen. Brav dein Kreuz gesetzt, als du alt genug zum Wählen warst, von Nachrichten zumindest den Titel in der Erinnerung behalten. Geredet hast du, in Seminaren, vor Leuten, die deiner Meinung waren. Am eloquentesten warst du darin, deine eigene Apathie zu erklären, vielleicht ist es keine Lüge mehr, wenn man selbst darauf hereinfällt, deswegen hast du das auch nie gesagt oder auch nur gedacht, bloß gefühlt wie einen plötzlich kühleren Wind im Nacken: das geht mich eigentlich nichts an. Es gab immer einen Starbucks, in dem du dich vor dem Regen retten konntest, und du konntest es dir leisten. Warmer Kaffee und das Prallen der Tropfen auf Glas. Das Sterben war immer woanders.
Damals, als du noch ich warst, kam dir das Schreiben dieses Briefes so seltsam pathetisch vor, aber es war einzig Wichtige, was du noch machen konntest. Du glaubtest sogar, dann erstmal mit dem Thema durch zu sein, wolltest es erledigen – To-do-Liste: einkaufen, Abwasch, Todesangst umwandeln in Todesbewusstsein – und dann endlich wieder an andere Dinge denken, an dich, an deine Job-Perspektiven, an die Katze, die du dir anschaffst, wenn du erstmal fester im Leben stehst, an deine verdammte Masterarbeit, bestimmt nicht weniger deiner Energie wert als der Weltuntergang, an diese so törichte, so verfehlte Idee der Sicherheit einer Zukunft.
Ich stelle mir vor, dass du eine Katze hast, gerade jetzt, da es keine festen Leben mehr gibt, auch nicht hinter leckenden Dämmen. Du fragst dich, ob sie Angst hat, nicht die Angst vor dem Raubtier oder dem plötzlichen Donner, sondern die Angst in der Stille, wenn sie in eurem Lager in einer Ecke liegt und die Hitze, dauerhaft und geduldig wie Maden, sich trotzdem einnistet in ihrem stumpfen, schmutzigen schwarzen Fell, die Angst, dass das jetzt für immer so bleibt. Eine Katze, immer noch nicht so schlimm wie ein Kind.
Du hast es schon immer gewusst. Ich schreibe dir den Brief, damit du ihn öffnen kannst, wenn die Zeit kommt, und sehen, dass ich recht hatte, mit allem. Ich will dir Aufgaben geben, damit du etwas anderes tun kannst, als nur durchzuhalten.
Räume deinen Verschlag auf. Ich habe das nie gerne gemacht, meine Zimmer waren voll mit Müll und benutztem Geschirr und Kleidung, die noch nicht schmutzig genug war für die Wäsche, und Zetteln voller Hinweise auf unerledigte Aufgaben. Ich wartete immer erst auf den Tag und den Anlass, die gut genug wären, um Ordnung zu schaffen. Egal, wie du dich nach diesem Brief entscheidest, eine Zukunft hast du längst nicht mehr – also räum endlich auf. Streiche die Decken glatt, falte die Kleidung, staple die Bücher, die du in den letzten Jahren erst recht nicht lesen konntest.
Überlege dir, was du ihnen überlassen willst, und lass es gut sichtbar auf der Decke liegen. Seife, Tabletten, Batterien? Wenn nichts, nimm sie mit und verbrenne sie.
Hole das Papier raus, das du dich selten zu beschreiben getraut hattest. Schreibe an alle, die du über die Jahre verloren, und allen, denen du nie verziehen hast. Nimm die Zettel mit.
Reiße die Verpackung der Batterien auf. Stecke sie in den Discman. Suche dir drei deiner Lieblingssongs aus von den CDs, die du mitgebracht hast, nicht mehr, damit die Feigheit dich nicht einholt.
Wasche dein Gesicht und kämme deine Haare. Du hast die Frauen, die sich jetzt noch schminken und sich Beine und Achseln rasieren, immer lächerlich gefunden, und ich sage dir nicht, dass du damit aufhören sollst. Wasche nur wenigstens diese oberste Schicht deiner elenden Gleichgültigkeit von dir ab.
Gib der Katze den Rest deines Wassers. Lass die Luke offen, wenn du gehst, lass ihr die Wahl.
Trete hinaus in den brennenden Regen, wo Funken fallen auf die Netzhaut deiner endlich offenen Augen, und triff mich am Ufer der Wüste.
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messersschneide · 6 years
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Kein Ort, an dem man bleibt
Wenn mich jemand fragt, woher ich denn komme, nein, also, welche Nationalität haben Sie, wo sind Sie denn aufgewachsen, ich meine: was sind Sie, dann würde ich am liebsten sagen: ich bin Migrantin. Ich würde gerne sagen, dass man nichts Wichtiges oder auch nur Interessantes über mich erfährt, kennt man meinen Start- oder Endpunkt, ich würde sagen, dass man mehr über mich wirklich nicht wissen muss, ich würde sagen, dass ich selbst nicht mehr über mich weiß. Weil ich verstehe, was man hören will, wenn man mir diese Fragen stellt, sage ich: Moskau. Ich verstehe, dass man das, was ich gerne sagen würde, nicht verstünde.
Ich bin Migrantin. Nur dessen bin ich mir sicher. Ich verschlucke mich an jeder Benennung, bevor ich sie aussprechen kann, ich habe keine Meinung ohne „aber“, ich denke, also bin ich – noch nicht überzeugt. Man fragt mich, wo ich lebe, und weil ich verstehe, was man hören will, sage ich: in Hamburg. Was sich weniger falsch anfühlen würde:
Liminal space, I:
Seit ich irgendwann im Halbsatz das Falsche gesagt habe, will sie mir Fahrrad fahren beibringen, der pflastersteinbedeckte Platz vor der Schule ist gerade leer genug. Meine Füße zittern auf den Pedalen ihres Fahrrads, ich bin 17 und komme mir unheimlich dumm vor.
„Früher konnte ich das.“
Ich war 7, als ich in Blankensee zum ersten Mal ohne Stützräder fuhr. Die Haltestellen auf dem Weg zur Migrantenunterkunft kann ich auch mit 17 noch auswendig, vergessen, sie zu vergessen. Ich kann nicht aussteigen an einem zehn Jahre entfernten Ort, tue es trotzdem, trete in meine verwehten Fußstapfen. Wenige Monate nach unserem Auszug wurde die Unterkunft geschlossen, das haben wir schon damals gewusst. Toiletten auf den Gängen und der Bariton eines übenden Opernsängers im Zimmer über uns, in unserem: ein Campingkocher, vielleicht ein Kühlschrank, vielleicht doch zwei Betten und nicht eins für meine Mutter und mich. Ich weiß nicht mehr, wo das Gebäude stand, was auch immer ich hier verloren habe, ich werde es nicht finden. Die Regentropfen zerstäuben unentschieden in der Luft, statt auf dem Asphalt aufzuschlagen. Es ist kein Ort, an dem man bleibt.
Liminal space, II:
Seit einer halben Stunde wirft der Mann Münzen in den Spieleautomaten. Es ist fünf Uhr, nachts, nicht morgens, vor dem Morgen versteckt man sich am besten in der Pizzeria am ZOB. Ich bereue es schon jetzt, dich geküsst zu haben, du sicherlich auch. Du magst mich, weil ich Russin bin, weil ich Migrantin bin, dir gefällt Russland und meine Geschichte, und beides verstehst du nicht. Ich dachte, ich mag dich, wahrscheinlich beneide ich dich nur. Ich frage dich, ob dieses Gefühl kennst, nachts alleine auf Bahnhöfen oder draußen im Regen vor den warm leuchtenden Fenstern eines Hotels, diese so boden- wie formlose Traurigkeit, dieses Loch in der Brust, und du nickst – Fernweh nennst du das. Wegen Fernweh verreist du diesen Sommer schon wieder, Tschechien, Russland, Guatemala, hier hält dich so wenig, Lübeck ist kein Ort, an dem man bleibt. Du bist hineingeboren worden in diese Stadt und diese Sprache und diese Arroganz derer, für die Reisen eine hübsche Zeile im Lebenslauf ist und nur eine kleine Kerbe im Budget. Du kennst keine Sehnsucht; du kriegst, was du willst. Deine Wurzeln sind dir so selbstverständlich, dass du denkst, du könntest ohne sie leben. Ich weiß, dass ich es kann.
Liminal space, III:
Die Arroganz, die sich kurz vor dem Schulabschluss im Nacken festsaugt wie ein Blutegel, wenn man zugleich zu jung und zu alt ist für diese Stadt, Lübeck ist kein Ort, an dem man bleibt. Ich kenne keine Patrioten, nur Suchende, Wartende, die nicht wissen wollen, wie fest dieser Pflastersteinboden sie hält. Ich kenne niemanden, der sich nicht durch das Backstein-Welterbe bewegt wie durch einen dunklen Tunnel, ich kenne niemanden, der Marzipan mag oder „Die Buddenbrooks“ gelesen hat. Was ich kenne, ist Rastlosigkeit, Ungeduld, meine eigene Arroganz und Scham, wenn ich frühere Freunde in der Innenstadt treffe: „Na, auch immer noch hier?“ Was ich kenne, sind Ateliers so klein wie Wohnzimmer in der Museumsnacht, was ich kenne, ist keine Stadtgeschichte, aber immer noch verdammt viele Haltestellen, was ich kenne, ist ein Verirren mit Absicht, wenn meine eigenen vier Wände mir kein Zuhause mehr sind. Was ich nicht kenne, ist ein Zuhause. Was ich nicht kenne, ist ein anderes Zuhause als in verwehten Fußstapfen, im Suchen und Warten und in der Unentschiedenheit, im Nichtangekommensein und Nieankommenkönnen, in ständiger Migration. Alle Städte, in denen ich fremd bin, kann ich lieben oder hassen, nur diese nicht; dafür kenne ich sie zu gut. Lübeck ist kein Ort, an dem man bleibt; es ist der einzige Ort, an dem ich bleiben kann.
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messersschneide · 6 years
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Der Blick / Panoptikum
I.
Als ich noch zur Schule ging, war ich richtig, richtig hässlich. Ich trug Shirts von Bands, die niemand kannte, und immer denselben matschgrünen Kapuzenpullover. Ich habe mir meine Haare abgeschnitten, als ich zwölf war, mit einer Nagelschere. Ich stieß jeden Blick magnetisch ab. Ich war die beste Beleidigung, die eine Frau aussprechen kann, ohne etwas zu sagen: Ihr seid es einfach nicht wert, dass ich mir Mühe gebe für euch.
Als ich elf war, waren meine Haare lang und seidig. Ich habe dicke schwarze Ränder um meine Augen gezogen und zum ersten Mal versucht, kein Kind, sondern eine Frau zu sein.
Ich wurde nicht gehasst. Ich wurde nicht gemobbt. Man wollte mir helfen. Freundinnen hatten mir angeboten, mich zu schminken und mit mir shoppen zu gehen, und ich hatte abgelehnt, nicht aus Trotz, aus Angst: dass ich auch dann, wenn ich mir Mühe gebe, nie schön sein werde.
Mit 18 kaufte ich mir zum ersten Mal ein Kleid und versuchte wieder, eine Frau zu sein. Ich dachte, der Selbsthass, die Angst, der zehrende Mangel würden sich auflösen, wenn ich nur endlich schön bin.
Ich war 22, als ich mich zum ersten Mal in einem Spiegel sah und dachte, dass ich schön sei. Heute bin ich 23. Ich ziehe meine Wangen ein auf Fotos, ich stimme die Kleidung, die ich trage, und mein Make-up jeden Morgen aufeinander ab. Ich trage Highlighter auf meiner Nase, um sie schmaler zu machen - Und ich decke meine Augenringe nicht ab, um zu zeigen, wie satt ich euch habe -
Ich habe keinen Twitter-Account, dafür habe ich nicht oft genug einen originellen Gedanken. Ich finde es befremdlich, auf Instagram Likes von Menschen zu bekommen, die mich nicht kennen. Ich will mir keine Mühe geben – weil ich noch immer Angst habe, dass ich auch dann nie schön, nie mundgerecht konsumierbar sein werde.
II.
Du hast endlich keine Pickel mehr und Untergewicht – surprise, surprise, du hast noch immer nicht aufgehört, dich selbst zu hassen. Du bist kein Kind, sondern endlich eine Frau, und das Panoptikum befindet sich in deinem Kopf. Jede Gestalt, die du annehmen kannst, ist von einem einzigen Wachposten sichtbar, genau in der Mitte deines Gefängnisses. Es gibt keinen Winkel, aus dem du nicht gesehen wirst. Du kannst den Blick nicht mehr abstoßen. Du bist bestens vorbereitet: Weil du nicht weißt, wann er dich trifft, verbringst du dein ganzes Leben als Wachsfigur. Mit Frontkamera und den richtigen Filtern kannst du zumindest bestimmen, aus welchem Winkel man dich verurteilt. Also mal dir einen Strich auf die Wasserlinie und hör auf zu weinen, tue doch einfach mal, als ob du dir noch selbst gehörst, es macht dir ja Spaß, du tust es ja nur für dich. Ein geteilter BuzzFeed-Artikel ist halbes Leid, Feminismus ist gesellschaftsfähig, seit man damit Lippenstift verkaufen kann, mit Hashtag #bodypositive ist sogar deine Cellulite noch massentauglich, du kannst alles sein, was du willst – nur nicht hässlich. Nur nicht unsichtbar.
Klickzahlen, Profil-Interaktionen, steigende und fallende Trendlinien – du beobachtest genau, wie du beobachtet wirst. Du fängst und erwiderst den Blick deines Überwachers, weil du ihm nicht ausweichen kannst. Mit der Spitzhacke schlägst du Profit aus deiner Haut, die erst zur Skulptur werden muss, um Daseinsberechtigung zu haben. Wie oft must du noch bemerkt werden, damit du dich wieder so fühlst wie damals, als du noch unsichtbar warst?
III.
Im Bachelor-Studiengang der Medienwissenschaften kann man Seminare belegen, wie man mehr Follower auf Instagram bekommt. Wir haben es endlich geschafft: hier haben wir unser Perpetuum Mobile. Endlich können wir die Werbung selbst ins Schaufenster stellen, die einzige Ölung, die das Getriebe braucht, ist unsere laute, wortlose Angst, vielleicht doch nie schön zu werden. Wir haben uns aneinander abgeschliffen, wir sind mundgerecht konsumierbar geworden – und ihr, ihr werdet immer noch über uns lachen. Sich Mühe zu geben, um zu gefallen, Angst zu haben, das ist einfach nicht cool. Ihr verspottet unsere sinnlose Eitelkeit, ihr mögt es doch eh am liebsten, wenn Frauen was auf den Rippen haben und sich nicht schminken. Take her fucking swimming on the first date, lasst sie nicht vergessen, dass sie ohne euren Blick nie perfekt sein wird, flüstert ihr ins Ohr mit eurem widerlichen heißen Atem, dass sie den kurzen Rock doch eh nur angezogen hat, um euch heiß zu machen. Ihr versteht es nicht. Ihr seid doch nur eifersüchtig. Unsere Make-up-Spuren in euren Kissen sind nur das Preisschild auf dem Wild, das ihr meint, selbst erlegt zu haben. Wir machen das nicht für euch, sondern für die Panoptiken in unseren Köpfen. Stellt euch hinten an. Gebt euch zufrieden mit dem virtuellen Abstand. Wir brauchen weder Freier noch Zuhälter, um uns zu prostituieren.
I.
Es gibt keine Fotos von mir aus der Zeit, als ich noch richtig, richtig hässlich war. Ich will von euch nicht hören, wie schön ich jetzt bin, und vor allem, dass ich früher so schlimm doch gar nicht aussah. Ich hatte nicht immer ein Panoptikum im Kopf. Ich bin nicht wütend. Ich bin müde.
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messersschneide · 7 years
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Ichcipher
Ich war: BombenSplitterHagelSchadenFreude
G a m m a s t r a h l e n h a n d k a n t e n s c h l a g
ein R
         i
       s
          s durch jede Zelle, nun
bin ich eine ______.
            ein M_nge_.
            e[Parasit]in.
Alles, was ich brauche, ist
    eine                Karte
                 zu
meinen                Scherben
ich w a  r   t    e auf Wegweiser
sammle mit bloßen Fingern
            z                      
            w                      Z
            i                        e
hinter   s      letzten       i       Seiten
            c                        l
            h                       e
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            n
                                    eine Chiffre
wg/NR2PfhZOuFQH4cL63Ep7PiAiTDiVYo95oqdl6Sxtiije1w4UOEA==  (*)
                                 ohne Schlüssel
z   w   i   s   c   h  e  n    L
n            weißes            ä
o          Rauschen          r
T            d   n   u           m
  eine Botschaft für mich
                   oder
   d       d    I       einen letzten Schritt
   i        a   m
   e       s    8
   e       e    0
i   s       s    .
n  n   i   n   S
d  i   n   i    t
e  c  d   c   o
r   h  e   h   c
S  t   m  t    k
t   g  H   g  w
a   i   a   i    e
d  b   u   b   r
t    t   s   t    k
                                                              weiter
                                                              auf dem Asphalt
                                                              werde ich sie finden, vielleicht
                                                                                                 fehlt es mir an Mut
                                                            oder Feigheit?
auf der Lauer
Augen Fragen Wunden offen
fälsche ich eure Schlüssel
zer
     trümmere meine Sprache zu Zeilen
     die ihr versteht
________________________________________________________________
Der Glanz in deinem Haar -
mein Splitter als Brosche
Vorsicht
du schneidest dich daran
wir sind doch beide Diebe
du weißt es nur noch nicht
dein Haus auf der Scherbenkarte
du wartest auf meinen Einbruch
Glas, kalt unter bloßen Fingern
im warmen Schein deiner Zimmer
finde ich nichts
nichts
nichts.
(*) http://textmechanic.com/text-tools/obfuscation-tools/encryption-generator/ (**)
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