(29) Endlich wieder Nachträumen
Es gibt Flüge und es gibt Flüge. Die Kunst besteht darin, immer offen für das Wunderbare zu bleiben, für das Privileg und den Genuss. Allerdings muss ich zugeben, dass dies bei machen Flügen leichter fällt, als bei anderen.
Nach einer Zwangspause konnte ich Mitte Juni endlich wieder fliegen. Zwei Tage vor dem ersten Carat-Fly-in am Flugplatz Donaueschingen, stand mein Carat aufgebaut auf der Wiese, es war warm und ich fühlte mich schlaff. Eigentlich wollte ich an diesem Tag gar nicht in die Luft...
Doch dann kam alles doch noch ganz anders. Bevor ich aber von diesem Flug berichte, macht eine kurze Rückschau über die bisherige Saison Sinn. Den mit Abstand besten Flug hatte ich gleich zu Beginn im März – das war schon ungewöhnlich. Die Thermik prügelte mich auf fast 3000 Meter hoch. Dann dauerte es lange, bis ich im Mai die wunderbar gelben Rapsfelder aus der Luft bestaunen konnte. Ich war in die Arbeit an einem Buch vertieft oder das Wetter war schlecht. Oder beides. Wobei schlechtes Wetter immerhin perfekt zur Arbeit an einem Buch passt.
Zwischenzeitlich tröstete mich ein kleines Holzmodell. Zu meiner großen Überraschung führte ein Hersteller von Holzmodellen den Carat in seinem Programm (https://www.pureplanes.de). Ich bestellte sofort und gönnte mit noch die Gravur mit meinem Kennzeichen D-KRID gegen einen fairen Aufpreis. Ein paar Tage später lockte mich der Duft von schnelltrocknendem Holzleim wieder zurück in meine Kindheit. Es war die Zeit der großen Träume.
Ein Modellflugzeug reichte aus, um mich um die Welt zu tragen. Alles um mich herum war Sehnsucht, Aufbruch und Hoffnung. So unglaublich leicht waren diese Traumreisen. Wie viele Schritte es dann von den Kindheitsträumen bis zum echten Fliegen waren – Ausbildung, Verein, Schein, erstes Flugzeug und dann eines Tages der Carat – davon erzählt letztendlich dieser Blog. Nun hielt ich wieder ein kleines, schematisches Holzmodell in der Hand und wunderte mich darüber, wie einfach und fast schon automatisch die Fantasiemaschine in mir ansprang. Man nehme das Modell, halte es ins Licht, drehe und wende es und schon fliegt man in Gedanken davon, lässt sich wegtragen aus dem heimischen Wohnzimmer, der Weg ins Freie.
Mittlerweile steht das Modell auf der Fensterbank in meinem Büro. Immer wieder nehme ich es zur Hand, denke aber auch darüber nach, wie unvergleichlich besser es ist, selbst fliegen zu können. Was für ein Privileg, gerade in diesen Zeiten! Auch wenn es wackelt und rüttelt, ist es doch stets ein wenig Götternektar. Das echte Fliegen ist die Kür, aber so ein Modell ist immerhin ein wunderschöne Übung im Nachträumen.
Nach Flügen, die zwar ausreichten, um mich dankbar in die Luft zu bringen, die aber nicht wirklich etwas in mir anklingen ließen, kam dann dieser Tag im Juni. Und zwar völlig unverhofft. Eigentlich wollte ich gar nicht fliegen. Zu viel Wind, dachte ich mir. Gestern war es doch schon schön, sagte eine träge Stimme in mir. Es würde blau sein, na und, versuch es doch einfach mal, riet wieder eine andere Stimme. Ich wartete, entschied mich dann aber gemäß der Regel, dass Flugplätze auf denen das eigene Flugzeug aufgebaut auf dem Vorfeld steht, nicht dazu da sind, um sich die Füße platt zu stehen. Check, Fallschirm umgelegt, los geht es.
Und dann sehe ich diese Wolken in weiter Ferne. Eigentlich wollte ich im Platzbereich fliegen. Aber mit einem Carat hat man eben mehr Optionen. Allerdings sehe ich ein Gewitter, wenn auch weit entfernt, hinter dem Bodensee, vielleicht in den Alpen.
Was dann in den nächsten Stunden folgt, ist eine Art Lufttrampolin. Wo es hochgeht, geht es auch wieder runter. Ich konzentriere mich auf das Steigen. Hier und da verdichten sich die Wolken, es wird dunkler, aber es steigt dann auch besser. Das erste Mal seit langem genieße ich einen wirklich runden 3-Meter-Aufwind. So schön kontinuierlich steigt es, dass ich mein Butterbrot auspacke und in Ruhe vespere. Währenddessen kreist der Carat stabil, höher und höher... Kaum wage ich einen Blick auf den Höhenmesser sind es schon 2.400 Meter, dann bald 2.600 Meter und es geht höher.
Hier und da hängen Wolkenfetzen herunter wie dreckige Wäsche, die jemand auf der Leine vergessen hat, herab, das ist mir verdächtig. Es zieht sich zu, es wird wilder und dunkler. Das Steigen lässt fast schlagartig nach, aber mir kann das egal sein, ich hatte meine Freude und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass ich für einen Moment in diesem Himmel wohnte. Erst der Himmel als Heimat, dann Kurs nach Hause. Ich gleite diese wahnsinnige Höhe einfach ab, mehr als 2.000 Meter über Grund, das gibt es hierzulande selten.
Doch Geschenke, die man nicht erwartet, sind einfach die schönsten Geschenke. Vor ein paar Stunden wollte ich noch nicht einmal fliegen, war lahm und träge. Doch nun habe ich mich durchgeboxt, bin erschöpft, aber auch glücklich von dieser unerwarteten Luftreise. Voraus auf Kurs kann ich erkennen, dass hier nichts mehr für mich in der Auslage liegt. Das Schaufenster wird gerade vom himmlischen Designer umdekoriert. Hier und da ein paar einsame Fetzen, nichts für den Carat, der sich verwöhnt nur an den teuersten Juwelen im Schaufenster erfreut. So wie vorhin, als er ruhig und ohne Wackelei schnurstracks in den Himmel stieg. Diesen Moment schloss ich so tief es ging in mir ein, eines Tages werde ich diese Erinnerung brauchen, auch wenn jetzt gerade alles wie selbstverständlich dahingeworfen wirkt. Das aber ist die größte Paradoxie des Lebens. Während wir das, was wir eines Tages vermissen werden, erleben, können wir es selten in seinem unermesslichen Wert schätzen und willkommen heißen. Wir sind zu sehr in der ganzen Situation. Erst mit dem Abstand gewinnen wir Respekt vor dem Erlebten. Wir erkennen, dass wir als winziger Mensch Teil eines großartigen Wachtraums waren, surreal und voller Empfindungen, für die wir in diesem Moment keine Worte finden.
Während ich gedanklich versuche, solche Widersprüche aufzulösen oder zumindest erst einmal wahrzunehmen, schmelzen die Meter auf meinem Höhenmesser dahin, denn was ich vergessen hatte zu berichten, war der Wind, der in dieser Höhe mit 30 bis 40 km/h weht. Das sorgte auf dem Hinweg für verlässliche Reihungen, aber nun ist der Wind mein Gegner, der mir auf dem Rückweg entgegenweht und mir Boxhiebe verpasst, die den Carat taumeln lassen. Was für ein unfairer Fight! Dieses winzige Maschinchen mit mir, dem ängstlichen Menschen an Bord, gegen diese Naturkraft, ein Strom aus Widerständigkeit.
Aber ich habe ja zum Glück meinen Motor, der auch brav anspringt, nachdem ich alle Knöpfe in der richtigen Reihenfolge gedrückt habe und der sich jetzt Zeit nehmen darf, langsam auf Betriebstemperatur zu kommen, denn wir sind ja trotz der verlorenen Meter immer noch hoch oben über der Schwäbischen Alb. Den Motor in großer Höhe und nicht erst im allerletzten Moment zu starten, ist ein Akt der Liebe. Denn durch das Herumgleiten in großer Höhe ist dieser eiskalt und man spürt die Unwilligkeit beim Starten, auch wenn der Sauer-Motor gerne tut, was ich von ihm verlange. Dennoch klingt es mehr nach Anklage als nach Freude. Daher fliege ich viele Kilometer mit niedriger Drehzahl über die Alb hinweg um dem Motor meine Empathie zu beweisen, Empathie für ein Bündel aus Metall und Blech, und in der Tat klingt er nach und nach weicher, bald summt er wieder das bekannte Lied: mein Freund, ich bringe dich, wohin du willst. Der Rest ist fast Routine, ich sage fast, weil beim Fliegen niemals etwas Routine sein kann und darf, aber es sind eben bereits gesehene Dörfer, Felder und Straßen, wenngleich das Licht, ja immer ist es das Licht, doch niemals wirklich gleich ist. Wäre Heraklit Flieger gewesen, hätte er seinen Fluss einen Fluss sein lassen und noch viel pathetischer verkündet, dass man nicht zweimal im gleichen Himmel fliegen kann. Der Himmel kann Heimat sein, aber diese Heimat sieht nie gleich aus. Deshalb steht auch jede Ziffer im Flugbuch für ein einzigartiges Erlebnis, für eine je andere Welt. Wer diese Einzigartigkeit nicht mehr wahrnehmen kann, konsumiert Fliegen bloß. Aber Fliegen ist kein Konsumprodukt, sondern angewandte Magie, oder besser: die Kunst, sich selbst zu verzaubern.
Nun noch die Höhe abbauen, denn auch dieser Flug wird unweigerlich zu Ende gehen müssen. Gesetz der Zeit, Gesetz der Abläufe, aber solange wir selbst mittendrin sind können wir ruhig gesetzestreu sein, denn es ist auch das Gesetz des Lebens. Und das ist die Stelle, an der es gilt, sich daran zu erinnern, dass Gesetze niemals dazu da sind, um uns zu gängeln. Das Gesetz des Lebens meint es gut mit uns. Wenn wir dazu bereit sind, das Leben genug zu gestalten, wird es uns zahlreiche Genüsse bieten.
Ich lande im Direktanflug auf der Piste 36 in Donaueschingen und rolle zu meinem Anhänger. Der Carat wird betucht und bleibt während der Nacht aufgebaut draußen. Später werde ich besorgt aus meinem Dachfenster in Richtung Flugplatz blicken. Die Gewitter sind zu gewaltigen Monstern mutiert, irre zucken sie in der Nacht. Wie kann man nur so viel Angst um ein Ding haben, das wir Flugzeug nennen, weil uns vor langer Zeit, als die ersten Wagemutigen den Vögeln das Fliegen abgeschaut haben, kein besseres Wort eingefallen ist: Flug-Zeug. Aber zum Glück blitzt es weit entfernt. Ich schließe das Fenster, lege mich ins Bett und träume den Flug noch einmal.
2 notes
·
View notes