Die Verteidigung der Einst-Welt
Botho Strauß Botho Strauß ist unser wichtigster Autor. Aus der Öffentlichkeit hat er sich wie kein anderer zurückgezogen. Er ist der geheimnisvoll Unnahbare. Doch jetzt, kurz vor seinem 70. Geburtstag, hat er ein Buch über seine Kindheit geschrieben: "Herkunft". Es ist große Literatur. Von Ijoma Mangold, 16. Oktober 2014 AUS DER ZEIT NR. 41/2014 Als ich in den achtziger Jahren anfing, Botho Strauß zu lesen, war ich, damals ein Jugendlicher, sofort elektrisiert. Seine Bücher unterschieden sich von allem, was damals zwischen Heinrich Böll und Max Frisch die kanonisierte Gegenwartsliteratur ausmachte. Für den Heranwachsenden war die Literatur der Gruppe 47 zwar Schulstoff und sollte der kritischen Durchdringung der eigenen Gegenwart dienen, sie hatte aber eigentlich gar keine echte Aktualität, sie war, generationell gesehen, Vorgeschichte. Sie speiste sich aus Erfahrungen, die 30 Jahre zuvor in die Köpfe gedrungen waren. Ganz anders bei Botho Strauß: Hier kam die echte Gegenwart zu Wort, die Texte vibrierten von den Verhaltensformen, Redeweisen und Idiosynkrasien, die man selbst beobachten konnte, wenn man in die erwachsene Gesellschaft, die einen als Jugendlicher umgab, hineinhorchte. Botho Strauß beschrieb das Jahrzehnt, dessen Zeitgenosse zu werden man fest entschlossen war. Kein Wunder, dass man seine Texte wie Orakelsprüche aufsog. In Paare, Passanten, dem Augenöffner-Buch der achtziger Jahre, war zwar schon vom "Gegenwartsnarren" die Rede, mithin eine Abwehrhaltung gegen die Jetzt-Zeit als Grundton spürbar, dessen ungeachtet waren diese Texte aber so gegenwärtig wie nichts anderes, was damals als Neuerscheinung in den Buchläden auftauchte. Auf dem Schulhof zitierten wir die schönsten Sprüche aus Trilogie des Wiedersehens ("Unser Land hier, das ist einfach kein fruchtbarer Boden für die großen Gefühle") und Kalldewey, Farce ("Kalldewey mit Namen, hält brav zurück den Samen"), der Verfasser erschien uns aber schon damals so ferngerückt, dass wir uns kaum vorstellen konnten, dass er vor gar nicht so langer Zeit leibhaftig als Dramaturg in der Truppe der Berliner Schaubühne mitmischte. In der biografischen Notiz seiner Bücher stand immer: "Geboren 1944 in Naumburg/Saale". Ich weiß, wie oft ich darüber nachgrübelte, was das bedeuten könnte. Er war doch der Chronist der BRD, und Naumburg an der Saale – lag das nicht in der DDR? Irgendwie schien dieser Mann die Grenzziehungen der Konferenz von Jalta zu ignorieren ... Damals lebte Botho Strauß natürlich noch nicht in der Uckermark. In der Zeitung hatte ich ein Foto seiner Charlottenburger Altbauwohnung gesehen, groß, weiß, hell und leer, also das, was man zu dieser Zeit als ein entschieden modernes, cooles Wohn-Statement verstehen musste. Aber auch dadurch wurde er einem als Person nicht greifbarer. Seine Theaterstücke konnten zwar hervorragend den Gegenwartsjargon des Justemilieu parodieren (deshalb liebten wir Schüler seine Stücke, denn wir konnten mit ihnen der Welt der Erwachsenen einen kompromittierenden Spiegel vorhalten), seine eigene Sprache war aber auf starke Weise manieriert, poetisch, offenbarungsaffin, eben nicht ganz von dieser Welt. Für diese Dissidenz hatten wir ein empfängliches Ohr, es entrückte ihren Verfasser aber in eine numinose Ferne. So ist es seither geblieben. Das eigentümliche Ineinander von exklusiver Zeitgenossenschaft und mythischer Ferne ist geblieben. Jedes neue Buch von Botho Strauß habe ich mit gieriger Erkenntnissehnsucht zur Hand genommen, aber auf welchen Wegen dieser Mann, geboren 1944 in Naumburg/Saale, seinen Weg in unsere Gegenwart genommen hatte, das blieb Geheimnis. Jetzt, kurz vor seinem 70. Geburtstag im Dezember, hat Botho Strauß ein Buch geschrieben, das sich in Tonfall, Sujet und Darstellungsweise, aber vor allem im Maße seiner Nahbarkeit von allem unterscheidet, was dieser produktive Autor in den letzten 40 Jahren geschrieben hat. Es heißt Herkunft und erzählt von seinem Elternhaus in Ems an der Lahn, wo der Junge seit seinem 10. Lebensjahr aufwuchs. Es ist eine kleine Welt, durchaus eine enge. Wir sehen den Knaben Botho, wie er nach dem Abendbrot auf die Straße stürmt, um noch eine Runde Rollschuh zu laufen. Wir sehen ihn, wie er mit Diana, der Tochter der italienischen Familie, die im Sommer die Eisdiele betreibt, in einem Hinterhof Westernszenen nachspielt, wobei es vor allem darum geht, "Diana zum künstlerischen Küssen in den stillgelegten Aufzug" zu locken ... Wir sehen seine Mutter, wie sie bei "Fräulein Wurzler" die Hörzu kauft. Aber im Mittelpunkt steht der Vater, Jahrgang 1890. Im Ersten Weltkrieg hat er ein Auge verloren. Er ist Pharmazeut, hatte einst in Naumburg ein kleines Unternehmen, bis er in der Sowjetischen Besatzungszone als angeblicher Spion verhaftet wurde, um ihn enteignen zu können. Jetzt, im Westen angekommen, lebt die Familie in bescheidenen Verhältnissen. Der Vater neigt zur Misanthropie, der die wenigen Bekannten, die die Familie hat, durch seine Unduldsamkeit vor den Kopf stößt, sodass es bald kaum mehr Geselligkeit gibt. Trotzdem herrscht in der Etagenwohnung der Strauß’ keine düstere Stimmung. In der Art des Karl Kraus gibt der Vater eine Zeitschrift heraus, die er vollständig selbst verfasst, die Mutter muss die Kopien eintüten und an den immer kleiner werdenden Kreis der interessierten Leser verschicken. Vater Strauß schätzt Ortega y Gasset und dessen modernekritisches Buch Aufstand der Massen, was, wie der Sohn nicht zögert hinzuzufügen, "damals weiß Gott nicht außergewöhnlich" war. Der Vater hätte ihn gerne normaler Überhaupt ist der Vater ein rechter Sonderling, für den sich der Sohn schämt, er hätte ihn gerne normaler. Der Vater achtet sehr auf die Formen, ist immer frisch rasiert, trägt stets Anzug und Weste, und in seinen Krawattenknoten steckt er eine Nadel mit Perle: "Dies war damals schon aus der Mode, und ich fand es so affig und eitel, dass ich häufig gegen diese Marotte protestierte. Ich wollte meinen Vater gewöhnlicher haben, er sollte nicht auffallen, nicht vornehm sein, sondern ein schmuckloser Mensch von heute." Dass es mit dieser Vornehmheit nicht weit her war, dass sie eher eine kleinlaute Rückzugsposition des von der Welt Enttäuschten war, dass auch die Ortega-y-Gasset-Lektüre nicht Ausdruck echter intellektueller Originalität war, darüber macht sich der Sohn keine Illusionen. Er sieht die Einsamkeit des Vaters, das Bedrückte seines Weltbezugs. Und doch geht von ihm Ruhe, Zartheit, Wiederkehr, Verlässlichkeit und Liebe aus. Und obwohl er diesen Vater einst lieber anders gewollt hätte, wird er ihm nun immer ähnlicher. Staunend stellt Botho Strauß fest: "Man altert, trotz der sozialen Bedeutungslosigkeit von Tradition, immer noch geradewegs in das hinein, was man einst als rettungslos veraltet empfand." Herkunft ist ein berührendes Buch wegen der Schutzlosigkeit, mit der Strauß von seiner Vatersehnsucht erzählt. Es ist aber auch ein Buch, dessen Sprache so rein, klar und elementar wie Quellwasser wirkt, das einem allen Phrasenstaub aus den Ohren spült. Einmal heißt es: "Ich hörte meine Mutter sagen, dass sie jeden Morgen, wenn sie das Staubtuch im Fenster ausschüttelte, den Vater drüben auf der anderen Seite des Flusses spazieren sah, auf seinem Gang vor dem Frühstück, und das Tuch ausschütteln und ihm zuwinken war eins." Ein großes, ein Philemon-und-Baucis-Bild in einer bescheidenen BRD-Kulisse! Die Welt, die Strauß beschreibt, ist eine, in der man auf der Straße noch den Hut zieht, um sich zu grüßen, eine Welt, die durchaus eng ist, insofern also genau jener Schreckensszenerie der sogenannten Adenauerschen Restaurationszeit entspricht, gegen die die Studentenbewegung rebellierte. In der rückblickenden Wiederaneignung dieser Kindheit spürt Botho Strauß, welch festen Boden er an diesen Erinnerungen hat. Dabei geht es nicht um Inhalte, die schlichte Nachkriegsherkunft wird also gerade nicht ideologisch-weltanschaulich rehabilitiert, sondern es geht um wiederkehrende Formen, Rituale und Spiele, die dem kindlichen Ich einen verlässlichen Ort in der Welt, das Gefühl des Aufgehobenseins vermitteln. Der Sohn mag über manche Ansicht des Vaters gestöhnt haben, aber der Vater war da. "Obwohl ich als Heranwachsender für ihn kein Verständnis aufbrachte und er für meine Zeit nicht, habe ich immer versucht, bedürftig, begierig versucht, ihn zu einer Übereinstimmung wenigstens mit einigen der Bücher zu bewegen, an denen mein Herz hing. Wenn mir dies hin und wieder gelang, wenn zum Beispiel ein Stück von Brecht seine Anerkennung fand, kamen mir die Tränen vor Glück, vor sieghafter Harmonie. Als ließe sich doch zwischen uns alles einen ..." Strauß, der ja gerne zu den reaktionären Dichtern gezählt wird, ist in formalästhetischer Hinsicht der letzte ernsthafte Avantgardist, der sich den konventionellen Plots des erzählerischen Realismus konsequent entzieht. Herkunft ist in dieser Hinsicht weniger fragmentarisch, linearer, zugänglicher. Gleichwohl ist Strauß’ Erinnerungsbegriff durchaus tricky. Erinnerung meint für ihn nicht, voller Erinnerungen an ein Damals zu sein, sondern "wie vordem" zu sein, also gerade: "frei von Erinnerung", angekommen in der ewigen Gegenwart der Kindheit und Jugendjahre. Die Erinnerung ist nicht einfach die Rekonstruktion der Vergangenheit, sondern die Rückkehr an einen Ort, der die Kontingenzen der Gegenwart auslöscht. In dieser Welt des Einst gibt es dann nicht mehr die Besserwisserei der Nachgeborenen. Herkunft endet in einer zugleich volltönenden wie gedanklich subtilen Apotheose des Briefbeschwerers des Vaters. Auch diesem Objekt eignet etwas Altfränkisches an, zugleich ist es ein Objekt der Dissidenz, weil es sich dem Funktionalismus der technischen Moderne verweigert. Strauß charakterisiert diesen Briefbeschwerer als ein Ding, dessen Zweck geringer wiegt als seine Form, das sich nicht durch seinen Nutzen rechtfertigt, denn darin könnte es durch jedes andere beliebige Objekt, das etwas Gewicht auf die Waage bringt, ersetzt werden, sondern nur ästhetisch gerechtfertigt werden kann – durch seine "Ansehnlichkeit und Handschmeichelei". Und dann sagt er von diesem Dingobjekt, es "gehörte zu keinem anderen Teil, es war nirgends kombinier- oder addierbar". Es ist das urtümliche Gegending zu unserer modularen Welt der unendlichen Rekombinierbarkeit. In diesem Briefbeschwerer des Vaters steckt die ganze Poetologie von Herkunft. Diese Erinnerungswelt, die sich Strauß erschreibt, will in sich abgeschlossen sein wie ein runder Stein, nicht Teil irgendeines größeren gesellschaftlichen Zusammenhangs, sondern das ganz Eigene, die durch nichts Allgemeines korrumpierte Singularität: "Niemand anderes". Das ist die Einst-Welt, die Strauß zwar historisch einordnet (der Vater war Pazifist wegen seiner Kriegsverletzung, als Verächter der Massen ein Feind des Nationalsozialismus, die SBZ brachte ihn um seine bürgerliche Kontinuitätsbiografie), die ihren Wert aber als zeitloser Urzustand kindlicher Welt-Ersterfahrung hat. Die Einst-Welt ist nicht interessant als historische Bedingungsmöglichkeit eines sich daraus entwickelnden oder sich davon abstoßenden Ichs, sondern als geschlossene Welt erster, starker Eindrücke, die nichts Späteres je überblenden kann.
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"Im Wettrennen um die überzeugendste Erklärung, warum Donald Trump gewonnen hat, wird es keinen Sieger geben. Es ist nicht entschieden, ob dies das Ergebnis eines Kulturkampfes oder eines latenten Klassenkampfes war – wahrscheinlich ist, dass beides zusammenkam. Ganz sicher dagegen ist: Man kann knapp 60 Millionen Amerikaner und die vielen ähnlich motivierten Wähler in anderen Industrieländern nicht zu geistig, materiell und moralisch Minderbemittelten erklären. Es bleibt nur die Auseinandersetzung mit dem Erfolg des Populismus. [..] Wir werden keinen Schritt vorankommen, wenn wir das Böse weiter externalisieren, also ausschließlich auf all jene projizieren, die nicht so denken, handeln und wählen wie das liberale Justemilieu – was sich exemplarisch an dem schönen, beflügelnden, aber auch anmaßenden Satz von Michelle Obama festmachen lässt, "When they go low, we go high". Die Menschen sind anders, die meisten jedenfalls. Sie sind nicht nur gut und nicht nur böse. Sie haben Abgründe in sich, die sich einigermaßen im Zaum halten lassen, wenn nicht äußere Faktoren die Lebenskoordinaten durcheinanderwirbeln: sozialer Abstieg oder die Angst vor diesem, Kontrollverlust (etwa in der Konfrontation mit dem Fremden), chronische Nichtbeachtung durch jene, die das Sagen haben."
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