Soldaten der Gebirgsbrigade 11 mit Partisanen am Grenzübergang in Gondo.
Neutral, aber auf der Seite der Freiheit: der Schweizer Standpunkt zur Repubblica Partigiana dell’Ossola
Photopress-Archiv/Keystone
Im Herbst 1944 regierte in Domodossola etwas mehr als einen Monat lang eine Partisanenjunta. Die Berichterstattung in den Medien erinnert an die Tonalität der aktuellen Ukraine-Diskussion.
Georg Häsler, Domodossola, 25.07.2023, 05
Noch mimte Benito Mussolini in Salò den Duce, als sich die Bergler südlich des Simplons im Herbst 1944 für einen kurzen Moment befreien konnten: Partisanengruppen aller Farben – von blauen Liberalen bis zu tiefroten Kommunisten – stürmten von den Alpen herab und verjagten die SS-Polizei und die neofaschistischen Schwarzhemden. Für 44 Tage etablierte sich auf einem Gebiet von der Dufourspitze im Nordwesten bis auf das Plateau über dem Lago Maggiore die Repubblica dell’Ossola.
Bis heute erinnern Grenzsteine an die Partisanenrepublik – unter anderem auf der Seestrasse von Cannobio nach Intra: Die Aufschrift «Confine Repubblica Partigiana dell’Ossola, Settembre Ottobre 1944» heroisiert die kurze Existenz eines Gemeinwesens, das für die italienische Nachkriegszeit sinnstiftend war. Erst jüngere Historiker wie die Schweizer Andrej Abplanalp oder Raphael Rues entzauberten den Mythos etwas: Die Partisanen waren untereinander heillos zerstritten.
Der Kampf um die Freiheit in den Tälern auf der anderen Seite der Grenze hat die Schweizer Bevölkerung jedenfalls aufgewühlt. Die NZZ und die «Gazette de Lausanne» schickten ihre Korrespondenten nach Domodossola, um über die Befreiung zu berichten: «Die Gebirgler und Talleute des Eschen- oder Ossolotals haben vor einem Monat die neofaschistischen und deutschen Vögte vertrieben», schrieb der Journalist, der aus Zürich angereist war.
«Regere Freischarentätigkeit» als Folge der Repression
Die Alliierten hatten zwar im Juni 1944 Rom eingenommen und konnten die Wehrmacht im Sommer weit nach Norden zurückdrängen, blieben aber bereits im August nördlich von Florenz an der Gotenlinie hängen. Die Truppen unter britisch-amerikanischer Führung brauchten Monate, um die letzte deutsche Verteidigungslinie vollständig zu durchbrechen.
Für die Deutschen waren die Partisanen simple Banditen. Hier stellen sie in Fondotoce Gefangene zur Schau. Diese Gruppe von 43 Partisaninnen und Partisanen wurde am 20. Juni 1944 erschossen – zwei Stunden nach dieser Aufnahme.
Norditalien stand unter einem brutalen Polizeiregime der SS. Mussolini, der nach der italienischen Kapitulation 1943 verhaftet und von den Deutschen in einer spektakulären Aktion befreit worden war, diente bloss noch als Marionette. Die Neofaschisten, wie seine Getreuen auch von der NZZ genannt wurden, unterstützten ihre deutschen Meister, Andersdenkende zu verfolgen und die jüdische Bevölkerung in die Vernichtungslager zu deportieren.
Die Partisanen, die sich in den Bergen hinter Mailand versteckten, erhielten deshalb in den letzten beiden Kriegsjahren bedeutende Verstärkung – auch von ehemaligen Offizieren der italienischen Armee. Anfang September habe die «regere Freischarentätigkeit» die Stützpunkte der Neofaschisten und der Deutschen mehrheitlich geschwächt, schrieb die NZZ in ihrem Text vom 11. Oktober 1944: «Um den Feind zu täuschen, wechseln die Freischärler häufig ihre Stellungen.»
Ein neues Italien ohne Spitzel?
Was nach einem durchdachten militärischen Plan klingt, erwies sich später als Zufallsergebnis einer völlig chaotischen Lage. Eine effektive Absprache unter den verschiedenen Einheiten gab es nicht. Dennoch gelang es ihnen, die Besatzer zum Abzug zu zwingen. Unter Ettore Tibaldi, dem langjährigen Chefarzt des Spitals von Domodossola, wurde eine «Giunta Provvisoria di Governo» errichtet, eine Regierungsjunta, worin mindestens ein Teil der Partisanengruppen vertreten war.
In der Nachkriegszeit wurde der Kampf der Partisanen heroisiert und zur Sinnstiftung herangezogen.
Es sei ein Staatswesen mit eigenen Institutionen und einer Gerichtsbarkeit entstanden, schrieb die NZZ, «eine Gemeinschaft von 60 000 Menschen, die sich frei fühlen und ihre Freiheit verteidigen will». Die Existenz der Repubblica Partigiana dell’Ossola schien dem Besucher aus der Deutschschweiz gegenüber «einem überlegenen Gegner» in akuter Gefahr: «Aber sie verzagen nicht und geben nicht nach, diese Gebirgler und Talleute, denn sie haben mit vollen Zügen die Luft der Freiheit gekostet.»
Pierre Briquet, der Korrespondent der «Gazette de Lausanne», stellt in seinem Bericht fest, die Sicherheit in Domodossola sei gewährleistet. Er habe in der Stadt mit 15 000 Einwohnern bloss zwei Polizisten gesehen. «Jeder geht seinen Geschäften so frei wie möglich nach, und niemand hat Angst, auf der Strasse laut zu sagen, was er denkt.» Es gebe keine Spaziergänger in Zivilkleidung wie auf dem Pflaster des faschistischen Roms, «die dich alle zehn Meter misstrauisch beäugen».
Etwas optimistischer als die NZZ, fragt sich Briquet, ob das neue Italien nun frei von «Sykophanten» und Spitzeln sei. «Nehmen wir es an», schliesst er seinen Bericht aus Domodossola, der am 14. Oktober 1944 erschienen ist. Am gleichen Tag rückten die Neofaschisten bereits in Domodossola ein. Die Partisanen hatten die Stadt kampflos geräumt, um ein Blutvergiessen zu verhindern. Ein Teil der Bevölkerung flüchtete über die Berge ins Wallis oder ins Tessin.
Der grimmige Blick des Simplonadlers
Nun erfolgte die propagandistische Revanche der neofaschistischen Presse. Der «Corriere della Sera», damals streng auf Duce-Kurs, beschrieb am 21. Oktober die «Vierunddreissig Tage der ‹Demokratie›-Tyrannei». Für die SS und die Neofaschisten waren die Partisanen nichts anderes als Banditen und Gesetzlose. In einem weiteren Artikel richtete die Mailänder Zeitung «Klare Worte an die Schweizer»: Man könne nicht «neutral» sein und auf der anderen Seite «feindlich».
Es folgt eine Belehrung, die an den Diskurs von heute erinnert: Wenn die Schweiz durch die «sektiererische Parteilichkeit ihrer Presse» ständig über andere Länder urteile, müsse das künftige europäische Nachkriegssystem die Frage der schweizerischen Neutralität erneut aufgreifen, fordert der «Corriere della Sera»: «Die Faschisten, angewidert von der unverschämten helvetischen Besoffenheit für das Ossola-Epos, sagen der Eidgenossenschaft, wo die Demokratie sowieso nur ein Mittel der kapitalistischen Oligarchie darstellt: Übertreibt es nicht.»
Tatsächlich erfuhr die Partisanenrepublik besonders aus dem Tessin viel Zuspruch und Solidarität. Aber auch unter den Schweizer Soldaten im Aktivdienst lagen die Sympathien klar bei der Bergbevölkerung auf der anderen Seite der Grenze. So will es auf jeden Fall die mündliche Überlieferung, die von Bildern gestützt ist: Partisanen, noch voll bewaffnet, posieren am Übergang bei Gondo zusammen mit Angehörigen der damaligen Gebirgsbrigade 11.
Geführt wurde der Verband, der die Simplonachse gegen einen Angriff der Achsenmächte hätte sperren müssen, zwischen 1938 und 1944 von Oberstbrigadier Hans Bühler, einem Staatsanwalt und Politiker aus Frutigen im Berner Oberland. Unter seinem Kommando entstand oben auf dem Pass aus Aushubmaterial die Skulptur eines Adlers mit grimmigem Blick nach Süden. Wer für die Freiheit kämpfte – und wer nicht –, scheint in der Simplonbrigade ziemlich klar gewesen zu sein.
Dynamit am Simplon
Nach dem Zusammenbruch der Repubblica Partigiana dell’Ossola musste die Schweiz sich in Italien erklären und versichern, man sei bemüht gewesen, neutralitätswidrige Handlungen zu verhindern. «Wenn vielleicht dennoch unter dem Deckmantel freundnachbarlicher Hilfe etwas Neutralitätswidriges vorgekommen sein sollte, so müsse dies den für die Überwachung besonders ungünstigen geographischen Grenzverhältnissen zugeschrieben werden», paraphrasierte ein Diplomat seine Antwort.
Die guten Beziehungen über die Alpenpässe hinweg hatten Bestand: Kurz vor Kriegsende verhinderten die Partisanen die Sprengung des letzten Kehrtunnels der Simplonachse bei Varzo. Die SS wollte die Verbindung in die Schweiz zerstören – und nach ihrem Abzug aus dem Val d’Ossola verbrannte Erde hinterlassen. Unterdessen ist bewiesen, dass die Schweiz den Partisanen bei dieser Aktion direkt geholfen hat.
NZZ, 25. Juli 23
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