Tumgik
fragmentundsichtung · 2 years
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12. Juni. Reise nach Virginia. Gestern haben wir Baltimore verlassen, um uns ins Tal von Shenandoah zu begeben. Die Landschaft erinnert zwingend an manche Kapitel der Bibel: Friede, Anmut der bewaldeten Hügel, die gedankenvoll im Licht der sinkenden Sonne stehen. Am Fuß der Kuppen blinkt der Fluß gleich einem großen Säbel, der auf der Wiese läge. Was die Natur spricht, wird nie verstehen, wer nicht das Schweigen liebt. Wie groß sie auch sei, ihre Stimme wird nicht hörbar, sofern wir nicht lauschen und schon das geringste Geschwätz übertönt ihr Wort. Die Weiten Virginias durchwaltet unnennbare innere Majestät. Es ist die Welt des Buches Ruth oder der letzten Kapitel des Pentateuch. Man möchte gleich den Trappisten für immer verstummen, wenn man in die tiefen Täler blickt, darin die kupfergoldnen Strahlen
Green, Julien (1952): Tagebücher1928-1945, Herold Wien
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fragmentundsichtung · 2 years
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17.9.2011 18:20 Uhr Ich schlafe mit der Waffe in der Faust, ein sicherer Halt, als habe jemand einen Griff an die Realität geschraubt. Das Gewicht, das feine Holz, das brünierte Metall. Mit dem Mac-Book zusammen der schönste Gegenstand, den ich in meinem Leben besessen habe.
Herrndorf, Wolfgang: Arbeit und Struktur
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fragmentundsichtung · 2 years
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Er fragte, wie in diesem Land überhaupt je wieder Kultur entstehn könne und wies dann auf die Menschen hin, die sich widersetzt hatten. Kultur sei Widerstreit, sagte er, und Auflehnung. Zu messen sei die Stärke der Auflehnung am Grad der Unterdrückung. So lange der Wille zur Gegenwehr vorhanden sei, sei auch Kultur vorhanden. In Schweigen, in Anpassung schwinde die Kultur, gebe es nur noch Zeremoniell, Ritual. Auch wenn, bei der ungeheuren Übermacht, nur noch wenige Hunderte an ihrer Auflehnung festhielten, so beweise dies doch das Vorhandensein einer Kultur. Und wie hoch sei diese Haltung doch zu bewerten, angesichts der Ausrottungen, wie sie jetzt begangen würden in den Lagern im Osten. Die Ziffern, die uns zukommen, sagte er, sind unvollständig. Zwölftausend, sechzehntausend, vierzigtausend sollen es sein, auf jeden Schub. Die Juden sind es, die dort aufgehn in Rauch, während unsre Regierungen schweigen.
Weiss, Peter (1975): Ästhetik des Widerstands (Dritter Band), S.246, Suhrkamp
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fragmentundsichtung · 2 years
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Wir fahren jetzt wieder uptown, wieder richtung Osten. Dass es Bernhard also, darüber geht das Gespräch, eben nicht um den Inhalt der mitgeteilten Gedanken geht, jedenfalls nicht primär, sondern, abstrakter, um die Struktur, die der Prozess des Denkens in sprachlicher Gestalt manchmal hat. Und ich denke an das Gespräch mit Dietmar über den gegenwartspolitischen, antiklandestinen Aspekt des Begriffs. Es geht auch um einen Neuanfang, bei Einbeziehung alles Trennenden, und doch auch darüber hinweg.
Götz, Rainald; Dekonspiratione, 2000
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fragmentundsichtung · 2 years
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Ich könnte auf der Terrasse sitzen, sitze also da und habe den Park, den Rausch des Blühens, die Terrassen, den vielen Stein, hellen Stein, die hell lagernden Leiber der Stadt, das Licht, die Wärme, die Ahnung der Gassen von untenherauf, den Mond im Blauen. Ich will ja nicht im Firmament sein bei Tag, nur glitzern im Glitzern, ich lebe ja, will raus, will runter, was tun. Was tun?
Nizon, Paul: Canto, 1983, Suhrkamp
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fragmentundsichtung · 2 years
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Die Kunst, sagte Hodann, setze dort ein, wo alle Philosophien und Ideologien aufhören, sie entspringe der Entelechie, jener rätselhaften Kraft, die allem Lebenden innewohnt, um es zu steuern und, erleide es Schaden, wieder herzustellen, zu den mnestischen Funktionen gehöre sie, die im Hirn, in den Zentren des Visuellen und Akustischen, der örtlichen und zeitlichen Orientierung, alles Vernommne bewahren und es uns, auf Nervenreize hin, zugänglich machen, ohne daß je, beim Sezieren, Spuren dieser aus Erinnrungen bestehenden Denkfähigkeit entdeckt worden wären. Die Mneme, beschützt von der Göttin Mnemosyne, leite uns zu den künstlerischen Handlungen an, und je mehr wir von den Erscheinungen der Welt in uns aufgenommen hätten, zu desto reichern Kombinationen könnten wir sie bringen, zu der Vielfalt eben, aus der sich der Stand unsrer Kultur ablesen lasse.
Weiss, Peter (1975): Ästhetik des Widerstands - Dritter Band, S.134
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fragmentundsichtung · 2 years
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„Als ich erwähnte, wie ausgehöhlt ich mich, nach der Arbeit morgens in der Fabrik an den Tisch zum Schreiben setzte und mich um die schon wie verflogenen gestrigen Sätze mühte, sagte er, daß eine künstlerische Tätigkeit gar nicht denkbar sei ohne eine feste Ebene, wo der Stoff allen äußern Angriffen entzogen bleibe, denn wie könnten wir uns sonst die Schöpfungen erklären aller derer, die ihr Dasein in ständiger Not, ständigem Elend verbracht hatten. Was sich uns so oft als Unmöglichkeit der Kunst, der Dichtung zeige, sei in Wirklichkeit die Voraussetzung für die Arbeit, mit der sich das Leben ermöglichen lasse. Auch ich mußte dies empfunden haben, denn es hatte mich nie entmutigt, wenn ich wochenlang nichts zustande brachte, das Geschriebene immer wieder ausstrich, von vorn begann, ich war ja noch ungeübt, war noch nicht vorgestoßen zu jener Schicht, von der Hodann gesprochen hatte, mußte das Material noch aus der Schwemme von Abfall und Schlamm hervorsuchen. Vielleicht, sagte Hodann, wagst du auch noch nicht, ganz für dein Schreiben einzustehen, glaubst, du würdest damit deine Arbeitsgefährten kränken. Er hatte recht, in der Fabrik griff ich nur verstohlen zum Notizbuch, das ich bei mir trug, und wenn wir, während der Pause, mit unsern Thermosflaschen, unsern Blechbüchsen, am Rand des Waschkessels saßen, im stechenden Geruch der Säure, darauf verzichteten, zur Kantine im obersten Stock des Hofgebäudes hinter der Rampe zu gehen, weil uns dies fünf Minuten gekostet hätte, wäre mir das Eintragen von Stichworten überheblich oder wie etwas Anrüchiges vorgekommen. Dabei hatte ich mich doch seit jeher darum bemüht, keinen Bruch entstehen zu lassen zwischen den manuellen und den intellektuellen Tätigkeiten, hatte immer darauf bestanden, daß wir das, was sich in den Werkstätten und Montagehallen mechanisch vollzog, bewußt aufnehmen. Gerade weil wir geduckt, mißachtet wurden, hatte ich, ermutigt durch die Bücher, deren Autoren aus der Arbeiterklasse stammten, unsern Werkplatz als eine Schulungsstätte unter andern verstehen wollen, wo das Aufschlagen eines Schreibhefts etwas Selbstverständliches sei. Doch schon die Frage, was ich denn da aufschreibe, erschreckte mich, als würde derjenige, der forschen und sich weiterbilden wollte, bezichtigt, er dünke sich besser als die übrigen, und wenn sie gestellt wurde von einem Werkmeister, einem Ingenieur, konnte dies bedeuten, wegen ungebührlichen Betragens entlassen, oder wegen Industriespionage verhaftet zu werden. Vor allem aber war die Scheu vor dem selbsibewußten Notieren zurückzuführen auf das alte Verharren in der Anpassung, in der das gewohnte Zusammenspiel von Handgriffen und das tägliche sich aufeinander verlassen eine Art Geborgenheit vermittelte, die wir nicht aufs Spiel setzen wollten.
Weiss, Peter: Die Ästhetik des Widerstands, 1975, S.44f.
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fragmentundsichtung · 2 years
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„Weder meine Mutter noch irgendein Chronist hätte sich je dran gemacht, das Altertümliche und Märchenhafte dieses Milieus zu schildern, von einem Heimischsein, einer Geborgenheit war nichts vorhanden gewesen, meine Mutter und ihre Schwestern hatten als junge Mädchen ihren Broterwerb begonnen, sie gerieten auseinander, kamen nie mehr zusammen, der Wechsel der Orte, das Reisen, die Ankunft in fremden Städten war nicht mit epischen Eindrücken verbunden, sondern nur mit der Frage, ob sich hier eine Anstellung finden ließ. Weil von Wilhelm Meister an bis zu den Buddenbrooks die Welt, die in der Literatur den Ton angab, gesehn wurde durch die Augen derer, die sie besaßen, konnten das Hauswesen mit solcher Liebe zum Detail und die Persönlichkeit im Reichtum aller Entwicklungsstadien umfaßt werden. Der Besitz prägte die Haltung, die den Dingen gegenüber eingenommen wurde, für uns indessen, denen der Wohnraum nie gehörte und der Aufenthaltsort eine Zufälligkeit war, war nur das Fehlende, der Mangel, die Eigentumslosigkeit von Gewicht. Darüber aber waren keine Worte zu verlieren, ich hätte in diesem Augenblick auch nichts andres erwähnen können als den eisernen Büchsenöffner, den ich auf dem Buffet liegen sah, in der Form eines Herings, der Unterkiefer als bajonetthafte Schneide vorgeschoben, den hatte es schon in Bremen gegeben, sicher hatte ich mit ihm gespielt und die Mutter hatte ihn mir aus dem Mund genommen. Im übrigen hatten wir keine Zeit, über die Kärglichkeit nachzudenken, unsre Biographie bestand mehr aus dem Rechnen, wie über die nächsten Tage und Wochen wegzukommen, wie die Miete zu zahlen sei, als aus dem Registrieren von Gegenständen, zwischen denen wir grade geduldet waren.“ - Weiss, Peter; Die Ästhetik des Widerstands, Suhrkamp, 1988, S. 134
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fragmentundsichtung · 4 years
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Wie abstoßend man den Kommunismus aus persönlichen Gründen auch finden mag, ein Besuch des Athos hilft, seine Ideale besser zu verstehen. Denn anders als im Westen waren die Klöster im Osten in erster Linie nicht Orte des Wissens, sondern Modelle einer idealen sozialen Ordnung.
Byron, Robert (2020): Der Berg Athos - Reise nach Griechenland. Die Andere Bibliothek, Berlin, S. 142
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Wahr ist nur jenes Wissen, das von jedermann akzeptiert werden muß, der sich der Gemeinschaft vernünftiger Menschen zurechnet
Luhmann, Niklas (2013): Macht im System. Suhrkamp, Frankfurt a.M. (S.83)
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Wie kann man ernsthaft behaupten, die Gesellschaft bestehe aus Menschen, wenn der Bestand innerhalb einer relativ kurzen Zeit, die sich nach der Lebensdauer der Menschen bemißt, komplett ausgewechselt wird? Oder: was sichert die Einheit und den Fortbestand der Gesellschaft, wenn man damit rechnen muß, daß niemand der heute Lebenden in einhundert Jahren zur Gesellschaft beitragen wird? Zauberformeln wie Transmission oder Sozialisation setzen sich an die Stelle des Problems, und die empirische Sozialisationsforschung kann denn auch überzeugend nachweisen, daß es kein Zufall ist, unter welchen Einflüssen nachwachsende Generationen aufwachsen.
Luhmann, Niklas (2002): Das Erziehungssystem der Gesellschaft (S.48). Suhrkamp, Frankfurt a.M.
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“Zu den Eigentümlichkeiten einer Codierung gehört schließlich hier, wie auch sonst, daß positiver und negativer Codewert in einen engen Zusammenhang treten und daß jeder von ihnen nur im Code, das heißt: nur mit Blick auf den anderen Wert, seine Funktion erfüllt. Gute Zensuren haben mehr mit schlechten Zensuren zu tun als beispielsweise mit Bildung.”
Luhmann, Niklas (2004): Schriften zur Pädagogik. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
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Schon lange ist man, zumindest in der europäischen Soziologie, nicht mehr bereit, das Resultat einer langen gesellschaftlichen Evolution, die in solche Systeme ausmündet, als Fortschritt zu begreifen. Man wird entsprechende Hoffnungen und auch entsprechende Enttäuschungen aufgeben müssen. Was möglich bleibt, ist eine bessere, eindringlichere, theoretische Beschreibung der Sachverhalte.
Luhmann, Niklas (2004): Schriften zur Pädagogik. Suhrkamp, Frankfurt a.M.
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“In Wirklichkeit hingegen hat Freud etwas anderes getan. Er hat keine wissenschaftliche Erklärung eines Mythos gegeben. Er hat vielmehr einen neuen Mythos geschaffen. Der Reiz der Behauptung zum Beispiel, daß alle Angst eine Wiederholung der Angst des Geburtstraumas ist, ist genau der Reiz einer Mythologie. „Es ist alles das Ergebnis von etwas lange Zurückliegendem.“ Fast wie der Bezug auf ein Totem.”
Wittgenstein, Ludwig (2005): Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben. Fischer, Frankfurt a.M.
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Vielleicht ist der Mensch nur ein besonders ausgeklügelter Knoten in der allgemeinen, das Universum konstituierenden Interaktion der Strahlungen.
Jean-François Lyotard (1987): Postmoderne für Kinder (S.37). Passagen Verlag, Wien
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fragmentundsichtung · 5 years
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Und Foucault? Zu Foucault gesellen sich andere Worte: Scharfsinn, Klarsicht, Ungeduld, irritierend und irisierend, unerschrocken schlicht und präsent, als Techniker des Diesseits dem Ereignis zugeneigt. Es gibt keinen Begriff, der reduzierend treffen könnte wie Professor, Genealoge, Journalist, Aktionist oder dergleichen. Foucault sagt: "Ich bin ein Werkzeughändler, ein Rezeptaussteller, ein Richtungsanzeiger, ein Kartograph, ein Planzeichner, ein Waffenschmied ...
Paris, Heidi (1979): Die Brille von Foucault. In: Köhler, Alfons u.a. (Hrsg.) (1979): Kühltür Geschichten. Bilder. Schmidt & Schmidt, Berlin
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fragmentundsichtung · 5 years
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Die Vorstellung einer »freien« Aktivität hat mich immer schon besonders interessiert - nicht nur in dem Sinne, dass sie von Grenzen befreit wäre, nein, ich meine auch, dass dieses Handeln tatsächlich kostenlos sein soll. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre habe ich auch beobachtet, dass es immer weniger öffentliche Räume und ganz allgemein Freiräume gibt, wo Menschen Spaß haben und miteinander agieren können, ohne etwas konsumieren oder bezahlen zu müssen, ohne unter der Kontrolle irgendwelcher kommerzieller Zwänge zu stehen. Die Menschen spielen gern, sie sind gern zusammen, sind gern unkontrolliert; und das steht natürlich in direktem Zusammenhang mit dem Glücklichsein.
Tillmans, Wolfgang: Vortrag im Museu de Arte Contemporånea de Serralves, Porto, 2015
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