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aboutequality-blog · 5 years
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Ein Appell an die Reggae- und Dancehall-Festivals in Deutschland.
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Die Idee, männliche* Künstler von den Flyern diverser Festival-Line-Ups zu entfernen, ist nicht neu. 2019 scheint diese Methode immer noch von Nöten zu sein, um vor allem eins hervorzuheben: ein Ungleichgewicht der Geschlechter. Auch im Reggae und Dancehall.
Großbritannien, 2015. Josh Dalton editierte ein Festivalplakat, indem er alle männlichen* Acts heraus löschte. Übrig blieben einzelne, stark verstreute Namen von weiblichen* Künstlerinnen, die ca. 10% des gesamten Festival-Bookings ausmachten. Diese visuelle Darstellung der Festival-Line-Ups bewirkte vor allem eins: Ein massives Ungleichgewicht der Geschlechter wurde sichtbar und schockierte. Unzählige weitere Festivals wurden folglich unter die Lupe genommen; hinzu kam eine Initiative von PRS Keychange, welche 50/50 Line-Ups auf Festivals bis 2022 realisieren möchte. Über 200 Musikorganisationen sind dieser bereits beigetreten, dennoch bewegt sich der Trend nur in bestimmten Musikgenres – abseits von Reggae und Dancehall.
Bei Betrachtung der diesjährigen Line-Ups der Reggae- und Dancehall-Festivals macht es den Anschein, als sei diese Diskussion nie existent gewesen. Und so wurden die Line-Ups von 13 in Deutschland stattfindenden Reggae- und Dancehall-Festivals untersucht und jeder Act, der nicht mindestens zu 50% Frauen*anteil hatte, vom Flyer entfernt. Natürlich muss erwähnt werden, dass hier mit einem binären Geschlechterverständnis gearbeitet wurde und wir ebenso nicht wissen, wie sich jede*r einzelne Künstler*in identifiziert. Doch auch wenn wir hier nur von einem ungefähren Richtwert ausgehen, sind die Ergebnisse düsterer als jedes Musikvideo von Tommy Lee Sparta.
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9,8% Frauen* auf dem Line-Up im Schnitt – nicht einmal zehn Prozent machten Künstlerinnen auf den diesjährigen Festivalbühnen aus. Den höchsten Anteil mit 44,4% Frauen*quote lieferte Gracy’s Bash, ein kleines Festival im Norden Deutschlands. Die letzten Plätze mit 0% Frauen*anteil können sich mehrere Festivals teilen: Black Forest on Fire, Reggae Camp, Reggae im Hanffeld und das Weedbeat Festival. Dazwischen schwankt der Prozentanteil der Frauen* auf diesjährigen Reggae- und Dancehall-Festivals zwischen 3 und 16%. Erschreckend ist dabei besonders, dass die großen Festivals, wie das Reggae Jam, das Summerjam und das Ruhr Reggae Summer Mühlheim unter 10% Frauen*anteil bleiben. 
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Vielleicht ist Feminismus das inoffizielle Unwort des Jahres. Und vielleicht erscheint unsere Kritik auch kleinlich. Und eigentlich sind diese Festivals doch eine tolle Chance, die jamaikanische (et. al.) Musikkultur in Deutschland zu präsentieren, zu promoten und zu zelebrieren. Letzteres fällt jedoch schwer in Anbetracht folgender Frage: Ca. 50% der Festivalbesucherinnen sind weiblich* – warum spiegelt sich dieses Geschlechterverhältnis nicht im Line-Up wider? Warum werden Frauen* vor der Bühne, neben und hinter der Bühne, aber nicht auf der Bühne akzeptiert? Warum machen Künstlerinnen* nicht einmal 10% der Reggae- und Dancehall-Festivals 2019 aus? Warum sollte ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis nicht normal sein in einer Zeit, in der kontinuierlich feministische Wellen die Gesellschaft, nun, zumindest berühren und immer weiter in Frage stellen?
Die Antwort ist einfach und entmutigend: weil sich ausgeruht wird; weil Veränderung Angst macht und weil sich die Argumente immer wieder im Kreis drehen. Argumente, die cis-Männer* in den besten Positionen vertreten, die sich nun plötzlich bedroht und angegriffen fühlen.
Gängige Argumente sind:
„Aber die Leute wollen ja die ganzen Künstler sehen, die wir gebucht haben!“  Warum braucht es Veränderung, wenn das Alte wunderbar funktioniert? Die Frage ist doch eher: funktioniert das Alte wirklich wunderbar, oder haben wir uns einfach nur daran gewöhnt? Gewöhnt daran, nur Männer* auf der Bühne oder hinter den Decks zu sehen und gar nicht zu hinterfragen. Haben wir uns vielleicht daran gewöhnt, etwas Neuem gar nicht die Chance zu geben?
Warum braucht es 50/50 Line-Ups, warum braucht es Quoten?  Die Tatsache ist – es braucht überhaupt keine 50/50 Line-Ups. Das ist wunderbar zu sehen, mit nur einem Blick auf die deutsche Festivallandschaft: denn auch dieses Jahr sind Festivals mit sexistischen und misogynen Headlinern ausverkauft und beliebt. Vielleicht braucht es deshalb Quoten – um den Status Quo zu hinterfragen und zu einer Veränderung zu bewegen. Denn ohne Quoten, so der Davies Report von 2011, würde es um die 70 Jahre dauern, bis Frauen* mit Männern* in Unternehmensvorständen gleichgesetzt wären. Wie lange würde es nun bei Festivals dauern, bis sich eine Gleichberechtigung der Geschlechter auch im Line-Up widerspiegeln würde – ohne Quoten? Nun, wir haben Zweifel, ob wir, bis es soweit ist, noch unsere Zelte auf einem Festivalgelände aufschlagen, geschweige denn ein überteuertes Red Stripe an der Bar kaufen werden. Quoten funktionieren ähnlich wie Deadlines – keine*r mag sie, aber jede*r braucht sie. Auch Reggae Deutschland.
Kommen wir nun zu dem Argument der Argumente:
„Aber es gibt einfach so wenig Frauen im Reggae und im Dancehall.“   Die Frage ist: möchten wir uns auf dieser Aussage ausruhen? Oder sie tiefer hinterfragen? Der Mangel an Diversität auf Festival Line-Ups repräsentiert die Musikindustrie an sich, die strukturelle Diskriminierung von Frauen* und die ungleichen Machtverhältnisse; in diesem Fall auf ein bestimmtes Genre beschränkt. Es ist eine Industrie, in der Frauen* keine geschützten Räume geboten werden, um zu lernen, sich auszuprobieren und zu verbinden, zu networken – oder sich zu präsentieren. Doch genau das ist nötig, um eine sichtbare Veränderung zu schaffen. So sind es auch die deutschen Reggae- und Dancehall-Festivals, die Musiker*innen Möglichkeiten bieten, die die Künstler*innen von morgen formen. Es sind diese Orte, die helfen könnten, neue Blickwinkel zu schaffen und Diskussionen entstehen zu lassen. Aber dies wird nicht passieren, wenn Künstlerinnen* kein Raum geboten wird. Es bedeutet nicht, dass Popcaan, Chronixx und ein Marley-Künstler deiner Wahl nicht mehr spielen dürfen – es bedeutet lediglich, dass sie neben wunderbaren Künstlerinnen* wie beispielsweise Alicai Harley, Ishawna, Shenseea und Tanya Stephens auftreten.
Wie spannend könnte es sein, wie gut würde es uns tun, wenn nicht nur alte Muster reproduziert werden würden, sondern strukturelle Diskriminierungen wie Sexismus, Rassismus, Homophobie und Transphobie hinterfragt werden würden und mehr Diversität entstehen könnte, mehr Perspektiven.
Liebe Reggae- und Dancehall-Festivals in Deutschland: Wir fragen nicht nach einer Rechtfertigung. Wir präsentieren keine Lösung auf dem Silbertablett. Aber wir bitten euch, eure Position zu hinterfragen und zu reflektieren und fordern Veränderung! 
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Das * bedeutet, dass wir von einer Konstruktion der Kategorie Gender ausgehen. Jenseits der dichotomen Bezeichnungen von Frau* und Mann* gibt es weitere Identitäten und Selbstbezeichnungen.
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